DerKriegUndSeineOpfer
Zweite Folge: Gefangen im Krieg
Ende April 1945. SS-Soldaten treiben tausende entkräftete, kranke, in Lumpen gekleidete Häftlinge von Nord nach Süd durch die Oberpfalz. Die Nationalsozialisten nennen es Evakuierung. Ihr Ziel: Die herannahende amerikanische Armee sollte niemals die grausamen Auswirkungen des NS-Lagersystems zu Gesicht bekommen. Für die Häftlinge ist es jedoch keine Rettung, sondern ein Todesmarsch. Tausende geschwächte und teils über Jahre gequälte Menschen müssen Dutzende Kilometer pro Tag zurücklegen, von Lager zu Lager, ohne Verpflegung, hin ins Ungewisse. Wer nicht marschieren kann, wird auf der Stelle erschossen und auf die Schnelle verscharrt. Mindestens ein Drittel von ihnen wird dabei ermordet.
Unter den Häftlingen sind Menschen – Zivilist·innen, aber auch zahlreiche Kriegsgefangene – aus allen Ecken Europas, die das Deutsche Reich in den vergangenen sechs Jahren besetzt hatte: aus Frankreich und den Niederlanden, aus Polen und der Tschechoslowakei − und natürlich aus der Sowjetunion. Einer von ihnen ist der Offizier Nikolaj Nowodarow, Oberstleutnant und Kommandeur der Roten Armee. Er ist 38 Jahre alt, vier davon verbrachte er in deutscher Gefangenschaft.
Überfallen als Besatzer
Nikolaj Nowodarow kommt als Besatzer in den Zweiten Weltkrieg. Im September 1939 überfallen das Deutsche Reich und die Sowjetunion von zwei Seiten Polen. Nowodarow – ein junger, aber bereits erfahrener und sehr loyaler Offizier der Roten Armee – wird mit seinem Kavalleriekorps im ostpolnischen Łomża stationiert. Sie sollten dort gegen „Feinde der Sowjetunion” vorgehen und die „Brüder in Belarus“ schützen − so erklärt die sowjetische Propaganda die faktische Besetzung. Tatsächlich aber erlebt Nowodarow eine mehrheitlich polnische Stadt mit etwa 40 Prozent jüdischer Bevölkerung.
Nowodarow hat in mehr als 20 Jahren bei der Roten Armee schon einige militärische Operationen mitgemacht, aber nie eine existentielle Niederlage erlebt.
Die Armee ist sein Leben, seine Überzeugung. Sein ganzer Stolz sind Parteiausweis und Orden. Als Besatzungsoffizier in Ostpolen wird er in kaum eineinhalb Jahren zweimal befördert: vom Chef einer Division zum Kommandeur eines Regiments und dann zum Leiter einer Operativeinheit des 6. Kosaken-Kavalleriekorps I. V. Stalin. Mit 34 Jahren ist er Oberstleutnant. Nowodarow hat in mehr als 20 Jahren bei der Roten Armee schon einige militärische Operationen mitgemacht, aber nie eine existentielle Niederlage erlebt. Nun bringt dieser neue Krieg ein Desaster − sowohl für ihn persönlich, als auch für seine Armee.
Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, haben er und seine Armee ihr nichts entgegenzusetzen. Deutsche Kampfflugzeuge kreisen über Łomża, die sowjetischen Flieger werden mit dem ersten Luftangriff fast vollständig zerstört. Deutsche Truppen stehen bereits am nächsten Tag am gegenüberliegenden Flussufer des Narew. Nikolajs Korps hat nicht die geringste Chance. Ihnen bleibt nur: schnellstens überflüssige Dokumente verbrennen und überstürzt gen Osten fliehen.
Mit dem Überfall der Heeresgruppe Mitte auf das Territorium der damaligen Belarussischen SSR beginnt am 22. Juni eine der erfolgreichsten Operationen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg: die doppelte Kesselschlacht bei Białystok und Minsk.
Die deutschen Truppen dringen sehr schnell nördlich und südlich des Frontbogens von Białystok tief ins Hinterland der Sowjetunion vor…
… und bilden bereits am 26. Juni zwischen Białystok und Minsk zwei große Kessel, die vier sowjetische Armeen einschließen.
Die umzingelten Verbände der Roten Armee versuchen zwar, sich freizukämpfen, es gelingt jedoch nur wenigen und nur unter extrem großen Verlusten.
Von 46 Divisionen der sowjetischen Westfront werden 35 vernichtet. Mehr als 300.000 Soldaten und Offiziere geraten in Gefangenschaft.
Dieses Schicksal teilt auch das 6. Kavalleriekorps von Nikolaj Nowodarow. Zunächst zieht es sich stark dezimiert Richtung Minsk zurück. Am 3. Juli unternimmt es den aussichtslosen Versuch, die Umzingelung zu durchbrechen.
Mit kaum mehr 500 Mann, ein paar Gewehren und wenig Munition treffen sie auf etwa 60 deutsche Panzer und Pferdewagen mit Maschinengewehr.
Loyal unter Feinden
Die Wehrmacht hat sie erwischt: am 5. Juli 1941, in einem Waldgebiet, 13 Kilometer westlich von Minsk. Es ist heiß und staubtrocken. Nowodarow und seine ebenfalls noch lebenden Kameraden müssen ihre Parteiausweise auf einen Haufen werfen. Ein Tiefpunkt für den Sowjetbürger und Offizier: Sein bisheriges Leben ist vorbei. Nun geht es für ihn ums Überleben. Viele kleine und große schwere Entscheidungen stehen ihm bevor.
Gedanklich sucht Nikolaj zunächst nach Verstecken für seine Auszeichnungen. Die Medaille „20 Jahre Arbeiter und Bauern Rote Armee“, die er mit 31 Jahren bekommen hatte, durften die Deutschen nicht finden. Sie sollten nicht erfahren, dass er sich damals im russischen Bürgerkrieg als Kind von 11 Jahren freiwillig zur Roten Garde gemeldet hatte, als die Weißen in seine Heimatstadt Kamenskaja gekommen waren. Gemeinsam mit seinem Vater, einem bolschewistischen Kommandeur, hatte er als Aufklärer an der Verteidigung von Zarizyn teilgenommen. Er muss sich hier gegenüber den Deutschen älter machen − geboren 1902 statt 1907 − dann kann es so aussehen, als sei er zwangsrekrutiert worden.
Und noch etwas dürfen die Deutschen von Nikolaj nicht erfahren: Seine Frau Frida ist Jüdin. Er weiß nicht, ob es seine Familie in Sicherheit geschafft hat. Die Evakuierung per Zug direkt nach dem Überfall war chaotisch. Er schob selbst noch seine Töchter, die dreieinhalbjährige Swetlana und die nicht ganz zweijährige Galina, vom Bahnsteig aus durchs Abteilfenster zu seiner Frida. Rund herum explodierten deutsche Bomben. Frau und Mädchen sollten jetzt in Kasachstan bei den Verwandten angekommen, tausende Kilometer östlich der Front sicher sein, hofft Nikolaj.
Am 3. Juli 1941 wird Nowodarow in einem Waldgebiet 13 Kilometer westlich von Minsk gefangen genommen.
Anfangs wird er in ein „allgemeines Lager“ in Minsk abtransportiert.
Da es auch in folgenden Schlachten sehr viele Gefangene gibt, bauen die Deutschen ein ganzes System von hunderten Kriegsgefangenenlagern auf.
Die Gefangenen werden in der Regel zunächst in Armee-Gefangenen-Sammelstellen (AGSSt) hinter der Front gebracht. Danach kommen sie in Durchgangslager (Dulags) und werden dann ins Reichsgebiet oder in die annektierten Gebiete verbracht, wo sie getrennt in Mannschafts-Stammlagern (Stalags) für einfache Dienstränge und Unteroffiziere…
... sowie Offizierslagern (Oflags) für die höheren Dienstgrade untergebracht werden.
Nikolaj wird mit anderen Offizieren über ein Stalag bei Minsk in ein Oflag in Biała Podlaska, 400 Kilometer südwestlich, verbracht.
Von dort erreicht er – immer wieder beschimpft, erniedrigt, verprügelt, beschossen und ausgehungert – einen knappen Monat nach seiner Gefangennahme das Städtchen Hammelburg in Unterfranken. Ein Truppenübungsplatz ist dort zum Gefangenenlager Oflag XIII D für sowjetische Offiziere umfunktioniert worden.
Die Deutschen wollen Nowodarow von Anfang an zur Zusammenarbeit zwingen. Noch in Biała Podlaska will man ihn und einen Generalmajor seiner Einheit zu einem Radio-Interview in Berlin überreden, in dem sie von der Niederlage der Roten Armee berichten sollten. Beide verweigern und werden dafür von einem deutschen Unteroffizier verprügelt.
In Hammelburg dann erkennen die Deutschen schnell, dass Nikolaj Autorität unter den gefangenen Offizieren genießt. Die Lagerleiter versuchen, ihn zur Kollaboration zu bewegen. Ein Dilemma für den überzeugten Sowjetmenschen Nowodarow: Nach außen hin macht er mit, muss ja mitmachen.
Im Offizierslager Hammelburg werden zwei getrennte Blocks eingerichtet: Ein „Ukrainerblock“ in sechs ehemaligen deutschen Kasernen für Offiziere, die sich als Ukrainer oder Weißrussen bezeichnen, sowie Nicht-Russen und Stabsoffiziere ab dem Rang eines Majors. Insgesamt etwa 1500 bis 2500 Menschen. Und ein „Russenblock“ für 2500 bis 3500 Offiziere bis zum Hauptmannsrang, die sich als Russen deklarierten. Sie werden in 40 Holzbaracken untergebracht.
Nowodarow kooperiert äußerlich mit den Deutschen und wird zum Blockältesten des „Russenblocks“. Er muss dafür sorgen, dass die Baracken sauber gehalten werden und seine Mitgefangenen pünktlich zum Appell und zur Essensausgabe erscheinen. Andererseits organisiert er eine Art Lagerpolizei, um „unsere sowjetischen Beziehungen“ zu erhalten. Ein missgünstiger Mitgefangener schreibt darüber später in seinen Erinnerungen, Nowodarow installierte „nach sowjetischem System in jedem Häuschen einen oder mehrere Informanten“, überwachte im Verborgenen politische Gespräche und Einstellungen der Mitgefangenen. Wer sich gegen den Kommunismus oder Stalin äußerste, wurde demnach scheinbar zufällig in Schlägereien verwickelt und „bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt“. In einem wohlwollenden Zeitzeugenbericht heißt es: „Niemand kann etwas Kompromittierendes über ihn als Offizier oder Patriot sagen.“
Die Lagerleitung holt ihn ins sogenannte „militärhistorische Kabinett“: Hier müssen die sowjetischen Offiziere ihre Niederlage beschreiben, um den Deutschen konkrete Einblicke in das Vorgehen der Roten Armee zu liefern. Nikolaj schreibt dort drei Seiten über sein Kavalleriekorps. Für einige Zeit sammelt er wohl auch Berichte anderer Mitgefangener ein und übergibt sie den Deutschen.
Für diese Mitarbeit bekommt Nikolaj ein bisschen Zusatzverpflegung. Obwohl er nie wichtige Informationen weitergegeben haben will. Vielmehr leugnete er gegenüber den Deutschen immer wieder, in strategische Überlegungen seiner Vorgesetzten eingebunden gewesen zu sein − um das Wichtigste zu verbergen: operative Daten, die den Deutschen militärisch und vor allem politisch nützen könnten.
Mit dem strategischen Lavieren zwischen seiner sowjetischen Überzeugung und den Forderungen der deutschen Lagerleitung entkommt Nikolaj zunächst dem brutalen Lagerschicksal zahlreicher Mitgefangener. In den Offizierslagern werden besonders viele sowjetische Soldaten getötet, denn laut dem sogenannten „Kommissarbefehl“ gelten vermeintliche politische Agitatoren sowie jüdische Rotarmisten nicht als Kriegsgefangene, sondern können jederzeit ermordet werden.
Nikolaj Nowodarow ist ein Sowjetmensch, hat mit Anfang 30 praktisch keine vorsowjetischen Prägungen. Hungersnöte, Säuberungen, Bürgerkrieg und Besatzung empfand er stets als „Kampf gegen die Feinde“. Der Sowjetmacht verdankte er alles.
Sie glauben nicht mehr an den Sieg der Sowjets. Beginnen, demonstrativ zu beten. Kennen das Wort Genosse nicht mehr. Liefern Juden und Politkommissare an die Gestapo aus.
Umso erschreckender ist es für ihn zu sehen, wie schnell sich viele seiner Offizierskollegen verändern. Sie glauben nicht mehr an den Sieg der Sowjets. Beginnen, demonstrativ zu beten. Kennen das Wort Genosse nicht mehr. Liefern Juden und Politkommissare an die Gestapo aus. Gründen eine Partei, die sich an der NSDAP orientiert. So tief will Nikolaj niemals sinken.
Doch bald bedrohen ihn Mitgefangene. Und denunzieren ihn schließlich − wegen pro-sowjetischer Aktivitäten. Ende 1942, nach eineinhalb Jahren im Offizierslager Hammelburg, wird Nikolaj von der Nürnberger Gestapo verhaftet.
Die Verhaftung Nowodarows am 18. Dezember ist kein Einzelfall. Rund um den Jahreswechsel 1942/43 werden im Offizierslager Hammelburg insgesamt 66 höhere sowjetische Offiziere, darunter zwölf Generäle, von der Gestapo verhaftet und ins Polizeigefängnis Nürnberg gebracht.
Fast die Hälfte von ihnen kommt zu Tode, etwas mehr als ein Drittel überlebt. Das Schicksal der Übrigen ist unbekannt.
Einen guten Monat später, am 26. Januar 1943 wird der Großteil der Überlebenden ins Konzentrationslager Flossenbürg verschleppt.
Flossenbürg ist eines von vielen Konzentrationslagern, die die Nationalsozialisten innerhalb des Deutschen Reiches errichteten. Anders als die Kriegsgefangenenlager, die der Wehrmacht unterstanden, werden die KZs von der SS verwaltet.
Alle KZs besitzen neben Hauptlagern auch mehrere Außenlager, oft angeschlossen an große Produktionsfirmen, Steinbrüche oder Baustellen. So wird praktisch das ganze Land und schrittweise auch die besetzten Gebiete von einem riesigen, verzweigten Lagernetz überzogen. Die Zwangsarbeit, zu der auch KZ-Häftlinge herangezogen werden, wird eine bedeutende Säule der deutschen Wirtschaft.
Zum KZ Flossenbürg gehören neben dem Hauptlager auch rund 80 Außenlager in einem Umkreis von bis zu 170 km.
Die Häftlinge werden hier für verschiedenste Arbeiten in zahlreichen Firmen und SS-Unternehmen eingesetzt. Viele müssen ab 1942/43 vor allem in der Rüstungsindustrie Zwangsarbeit leisten, in der Produktion von Waffen, Kabeln, Munition, Zielgeräten für Bomben, Geschützen, Granatenwerfen, Waffenhülsen, Flugzeugteilen.
Im gesamten Lagersystem von Flossenbürg werden über die Jahre insgesamt ca. 84.000 Männer und 16.000 Frauen und sogar Kinder inhaftiert. Die Lebensbedingungen der Häftlinge verschlechtern sich im Laufe des Krieges drastisch. Ein Drittel aller Häftlinge wird den Krieg nicht überleben.
Als Kapo im Pferdestall
Der Ort Flossenbürg liegt unterhalb einer malerischen Burgruine, zwischen mehreren Granit-Steinbrüchen im Oberpfälzer Wald. In dem einstigen Arbeiter- und Ausflugsdorf haben die Nationalsozialisten 1938 ein Konzentrationslager errichtet, wo die Gefangenen nicht nur inhaftiert und terrorisiert, sondern bei Zwangsarbeit in den Steinbrüchen physisch geschunden, ausgeschaltet und wirtschaftlich ausgebeutet werden.
Anfang 1943 wird Nikolaj Nowodarow hier vom Kriegsgefangenen Nr. 1642 zum KZ-Häftling Nr. 4210. Rund 50 sowjetische Offiziere aus Hammelburg wurden nach Flossenbürg gebracht. Zu dieser Zeit werden in diesem KZ schon längst Kriegsgefangene aus der Sowjetunion zur Zwangsarbeit eingesetzt. „Arbeitsrussen“, wie man sie in der Lagersprache bezeichnet, sind oft schon bei der Ankunft in äußerst schlechtem Zustand. Bestehen, wie Augenzeugen berichten, „nur noch aus Haut und Knochen“, so dass an einen Arbeitseinsatz nicht zu denken sei. In der Hierarchie des Lagers stehen sie − ähnlich wie Jüdinnen und Juden − weit unten und unter hohem Vernichtungsdruck. Sie erhalten auch schlechtere Verpflegung als andere KZ-Häftlinge, etwa nur gekochte Küchenabfälle.
Das Hauptlager des KZ Flossenbürg ist 1938 in der Nähe eines Steinbruchs entstanden, in dem die Häftlinge Granit fördern müssen.
Der Steinbruch wird im Auftrag der Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH (DESt) – ein SS-Unternehmen – betrieben und soll Granit für die gigantischen Bauvorhaben von Hitler in Berlin und anderen Städten liefern.
Die Zahl der Gefangenen in Flossenbürg steigt kontinuierlich an. Auch die Zusammensetzung der Zwangsgemeinschaft und die Bereiche der Zwangsarbeit verändern sich.
Das Hauptlager besteht aus mehreren Baracken und anderen Gebäuden, die hauptsächlich von Häftlingen selbst zwischen 1938 und 1943 errichtet werden mussten.
Die Häftlinge werden in Holzbaracken an beiden Seiten des Appellplatzes untergebracht. Ursprünglich für je 250 Häftlinge ausgelegt, sind 1944/45 schließlich bis zu 1.000 Menschen in einer Baracke zusammengepfercht.
Im Hauptteil des Lagers befinden sich außerdem zwei massive Steinbauten mit der Lagerküche, eine Wäscherei und Wäschelager sowie der Krankenbau und Krankensäle.
Auch in Flossenbürg will die SS die Arbeitskraft sowjetischer Kriegsgefangener ausnutzen. Mehrere hundert von ihnen sterben in den ersten Monaten.
Die noch verbliebenen sowjetischen Kriegsgefangenen werden später in vier speziellen Baracken vom Typ „Pferdestall“ untergebracht, die erst im Juli 1942 fertiggestellt werden. Höchstwahrscheinlich ist auch Nikolaj Nowodarow in einer dieser Baracken inhaftiert.
Bereits ab September 1941 werden sowjetische Kriegsgefangene auch zur Exekution nach Flossenbürg verschleppt. Über 1.000 zuvor ausgesonderte Rotarmisten werden von der SS am Waldrand beim Krematorium ermordet.
Ab Anfang 1943 finden Exekutionen nur noch vereinzelt statt. Wegen des Baus einer Kläranlage werden diese nun in den Innenhof des Arrestgebäudes verlegt. Die ermordeten und verstorbenen Gefangenen werden im Krematorium verbrannt, ihre Asche in Gruben am Waldrand verklappt.
Um die Arbeitsleistungen von KZ-Häftlingen zu steigern, verordnet die SS-Führung die Vergabe von Prämien. Häftlinge erhalten für gute Arbeitsleistungen Prämienscheine. Diese können für zusätzliche Verpflegung, Tabakwaren oder einen Besuch des Lagerbordells eingetauscht werden. Oft werden sie willkürlich verteilt. Juden sind vom Bezug dieser Scheine grundsätzlich ausgeschlossen. Im KZ Flossenbürg werden seit Juli 1943 weibliche Häftlinge aus dem KZ Ravensbrück gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten.
Der Häftlingsbereich ist eingezäunt und wird von sechs steinernen Wachtürmen sowie einzelnen weiteren Holztürmen aus kontrolliert.
Unmittelbar vor dem Lagertor befinden sich mehrere Baracken, die als Unterkunft für die SS-Wachmannschaften dienen.
Die Lagerleitung – neben dem Lagerkommandant auch Lagerführer, Bauleiter, Verwaltungsführer, Ärzte und weitere SS-Offiziere – wohnt in einer SS-Villensiedlung außerhalb des Lagergeländes in prominenter Ortslage.
Außerhalb des Häftlingslagers befinden sich rund um die Steinbrüche mehrere Steinmetzhallen und Verwaltungsgebäude der DESt.
1943 verlagert das Messerschmitt-Werk Regensburg einen Teil seiner Produktion nach Flossenbürg. In den vorhandenen Steinmetzhallen sowie in zwei eigens errichteten großen Hallen müssen die Häftlinge Teile für Jagdflugzeuge montieren. Die Fertigung in Flossenbürg wird zum Vorbild für weitere Messerschmitt-Filialen in anderen KZs.
Auch mehrere Garagen befinden sich rund um das Lager. In einer von ihnen, unmittelbar vor der Kommandantur, sowie später auch oberhalb des SS-Casinos, gibt es auch Pferdeställe der SS, in denen Nowodarow arbeiten sollte.
Nikolajs Offiziersgenossen schuften nun im Steinbruch. Er sieht, wie Generäle vor Entkräftung sterben oder erschossen werden. Solche Erschießungen finden unweit vom Krematorium am Waldrand statt. Ein kleiner Bach spült oft das Blut hinunter in den Ort. Anwohner beschweren sich − nicht etwa über das Morden, sondern über das Blut im Bach und die Schüsse, die sie im Ort hören.
Nikolaj entgeht solchen Gräueltaten. Er hatte einst an der Moskauer Frunse-Militärakademie Deutsch gelernt. Und ergattert nun dank seiner Sprachkenntnisse sowie seiner Kavalleristen-Uniform die rettende Position als Kapo im Pferdestall. Ein Job vor den Toren des KZ und mit ruhigen Momenten, in denen Nikolaj nachdenken, sich erinnern, womöglich gar träumen kann.
Mit seiner Stute Lyska war Nikolaj einst als Zwölfjähriger im Bürgerkrieg durch die feindlichen Linien geritten, um Nachrichten zu überbringen. Einmal traf er da auf einen „pockennarbigen Mann mit kaukasischem Akzent”: Der stellte sich nicht vor, aber ließ für den kleinen Nikolaj extra einen Karabiner zur Körpergröße anfertigen. Noch der erwachsene Nowodarow ist überzeugt: Das war Stalin höchstpersönlich. Die womöglich größte Auszeichnung für ihn als Kämpfer − selbst wenn es Trotzki oder jemand weniger Berühmtes gewesen sein sollte.
Als Stall-Kapo im KZ Flossenbürg kann Nikolaj nun wieder zusätzliche Nahrung organisieren. Für sich und andere. Am liebsten sind ihm die deutschen Kommunisten. Sie erscheinen ihm als standfeste, pragmatische Genossen, die schon lange Jahre den antifaschistischen Kampf im Untergrund fortführen. Sie verstehen, dass man nur Widerstand leisten kann, wenn man selbst nicht verhungert.
Viele der Sowjets verstehen das nicht: Für sie ist Nowodarow ein Verräter. Nikolaj muss wieder lavieren. Indes zementiert die SS eine Ordnung des Terrors und versucht, sich solche politischen, nationalen, sozialen und kulturellen Gegensätze zwischen den Häftlingen zunutze zu machen.
Mit den schwindenden Erfolgen der Wehrmacht an der Front verschlechtern sich die Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge drastisch. Die Zahl der Unfälle, Kranken und Toten steigt. Bei geheimen Mordaktionen der SS werden mehr als 2500 Gefangene getötet. Allein im letzten Kriegsjahr werden noch etwa 1.500 Menschen von der SS im Arresthof erschossen, darunter vor allem Männer und Frauen aus Polen und der Sowjetunion.
Ab 1944 rücken die Fronten von West und Ost immer näher. Die Lagerkommandanturen werden immer nervöser. Sie beginnen damit, Dokumente zu vernichten, und ermorden immer mehr Häftlinge.
Mitte April 1945 erreichen US-Truppen die Oberpfalz und nehmen eine Ortschaft nach der anderen ein. Zur gleichen Zeit beginnt die Leitung des KZ Flossenbürg die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen und die Häftlinge zu „evakuieren“, um sie dem Zugriff durch die Alliierten zu entziehen.
Die ersten solcher Gruppen von „Sonderhäftlingen“, darunter zahlreiche prominente Personen, werden bereits ab dem 8. April mit Zügen nach Dachau oder in andere Lager weiter südlich abtransportiert.
Am 16. April werden etwa 1800 jüdische Häftlinge in 40 Güterwaggons Richtung Süden geschickt.
Doch dieser Transport wird von US-amerikanischen Fliegern für eine Truppenverlegung gehalten und mehrmals angegriffen, bis der Zug in Schwarzenfeld nicht mehr weiter kommt. Dort fallen insgesamt 133 Häftlinge den Tieffliegerangriffen und anschließenden Erschießungen durch die SS zum Opfer.
Die Überlebenden müssen weiter Richtung Neunburg vorm Wald zu Fuß gehen.
An darauffolgenden Tagen werden weitere Häftlingsgruppen auf Todesmärsche geschickt, insgesamt 16.000 bis 20.000 Menschen. Diese Gruppen sind auf unterschiedlichen Routen unterwegs. Tausende von ihnen sterben vor Hunger, Krankheit, Erschöpfung oder werden von SS-Wachen erschossen oder erschlagen.
Nowodarow gehört wahrscheinlich zu einer Gruppe von ca. 750 Häftlingen, die am 19. oder 20. April auf Marsch über Pleystein, Winklarn und Rötz geschickt wird. Am 23. April erreicht sie die Stadt Roding, wo sie auf die 11. Panzerdivision der US-Armee stoßen.
Der befreite Befreier
Es ist der 23. April 1945, als der entkräftete Todesmarsch mit Nikolaj Nowodarow auf die 11. Panzerdivision der US-Armee trifft. Die SS-Wachen türmen. Die Häftlinge auch. Nowodarow übernimmt das Kommando über eine Häftlingsgruppe von 102 Menschen und führt sie in einen kleinen Wald. Von dort aus beobachten sie, wie Flugzeuge und Panzer näherkommen. Es sind die Alliierten, es ist ihre Rettung.
Nikolaj aber sollte nicht einfach nur befreit werden, sondern selbst zum Befreier werden. Zunächst bietet er sich noch in dem bayerischen Waldstück der US Army als Verbindungsoffizier zu den Sowjets an und stößt auf Interesse. Die US-Soldaten nehmen ihn ernst und in ihre Armee auf. Nikolaj ist bei der Gefechtsplanung dabei. Am Morgen des 6. Mai 1945 betritt und befreit der vor Kurzem selbst noch als KZ-Häftling geknechtete Sowjetoffizier mit den amerikanischen Soldaten das Konzentrationslager Mauthausen.
Aufrecht soll Nikolaj Nowodarow dort hoch über der Donau stehen, in der Uniform eines amerikanischen Oberst, aber mit Mütze mit aufgemaltem Sowjetstern. Umringt von US-Militär soll er den überlebenden, meist sowjetischen Häftlingen zu ihrer Befreiung gratulieren. Von Amerikanern erhält er die Bronze Star Medal für „herausragende Leistungen im Kampfeinsatz“ und ein beschlagnahmtes deutsches Auto.
Doch Nowodarow will unbedingt zurück, zurück in seine Rote Armee. Am 9. Mai 1945 erlebt Nikolaj ein feierliches Bankett der US Army. Am nächsten Tag kommt der Kontakt zur Roten Armee zustande, beide besuchen sich gegenseitig, vergeben Orden und feiern zusammen. Die Stimmung ist ausgelassen.
Und keine zehn Tage später ist Nikolaj wieder bei den eigenen Leuten.
Von Juni 1941 bis Mai 1945 sind insgesamt rund 5,7 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Mehr als drei Millionen sterben an Hunger und Krankheiten oder wurden ermordet. Dieses Massensterben zählt zu den größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs. Auch über 75 Jahre nach Kriegsende sind viele Schicksale ehemaliger Kriegsgefangener nicht oder nicht vollständig geklärt.
Contributors
- Drehbuch und Text: Matthias Kaltenbrunner und Peggy Lohse
- Illustrationen: Anna Che
- Animationen: Victoria Spiryagina und Philipp Yarin
- Redaktion: Leonid A. Klimov
- Recherche und Bildauswahl zu KZ Flossenbürg: René Bienert, Timo Saalmann
- Karten: Artyom Schtschennikow unter Beteiligung von Iaroslav Boretskii
- Design: village one
- Veröffentlicht am 5. April 2024
- In Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg