DerKriegUndSeineOpfer
Dritte Folge: Im Heim des Krieges
Unter dem Roten Stern geboren
Der 1. Juni 1941 ist in Minsk ein sonniger Sonntag. In der Bakunin-Straße steigen Kinder, die gerade die erste Klasse abgeschlossen haben, mit ihren Müttern in einen Bus und fahren raus aus der Stadt. Die Kinder drücken ihre Nasen an die Fenster und verfolgen die vorbeirauschende Landschaft: die grünenden Felder, Büsche und Bäume. An einer Kreuzung biegt der Bus in eine enge Sandstraße, überquert eine kleine Holzbrücke und kommt schon bald zum Stehen. Die Kinder begrüßt ein leerer Torbogen mit der Aufschrift „Dobro poshalowat“ – „Herzlich Willkommen“.
Sie haben ihr Ziel erreicht – das Pionierlager, das Symbol der „glücklichen sowjetischen Kindheit“. Diese Kinder sind unter dem Roten Stern geboren und müssen glücklich sein. Denn ihr sowjetisches Heimatland ist mächtig, reich und unbesiegbar – nahezu täglich verkünden das die offiziellen Zeitungen. „Danke dem geliebten Stalin für unsere glückliche Kindheit“ heißt es auf Plakaten, Postkarten und Transparenten in allen Ecken der Sowjetunion.
Dieses Pionierlager heißt Drasdy. Die Jungpassagiere steigen aus dem Bus. Sie beziehen Zimmer in zwei barackenähnlichen Gebäuden und erkunden die malerische Umgebung.
Einer von ihnen ist Marat Kusnezow: neun Jahre alt, Sohn einer jungen Staatsanwaltsassistentin und eines Elektroingenieurs, beide – Mitglieder der kommunistischen Partei und eifrige Erbauer des Sozialismus. Marat gehört zum ersten „Durchgang“ des Lagers Drasdy in jenem Sommer, vom 1. bis 24. Juni 1941 darf er hier seine Ferien verbringen.
Doch viel Freizeit wird es hier nicht geben, denn solche Pionierlager sind in erster Linie Orte der ideologischen Erziehung zu vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft. Der Lageralltag ist in hierarchischer Ordnung streng organisiert. Zum Programm gehören paramilitärische Wettbewerbe und Fußmärsche – alles Elemente einer militär-patriotischen Erziehung, die besonders viel Raum einnimmt.
Das Lagerfinale wird ein Sport- und Militärspiel, bei dem Kindergruppen gegeneinander Kriegshandlungen nachahmen. Das Ereignis wird lange im Voraus vorbereitet: Marat und all die anderen Kinder werden sportlich eingestimmt und müssen aus Holz eigene Spielzeugwaffen anfertigen.
Am 22. Juni soll es soweit sein.
Doch da überfällt die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion.
Die Realität überfällt das Spiel.
Nach dem Überfall von NS-Deutschland auf die Sowjetunion bewegt sich die deutsche Wehrmacht schnell in drei Hauptrichtungen voran: Nord, Mitte und Süd.
Das Territorium der Belarussischen Sowjetrepublik wird von der Heeresgruppe Mitte angegriffen. Die Wehrmacht dringt schnell und weit in das Territorium der Sowjetunion vor.
Für die Zivilbevölkerung in Minsk beginnen der 22. und 23. Juni noch als ganz normale Tage. Geschäfte, Behörden und Theater sind geöffnet. Keine Rede von Evakuierung.
Die sowjetische Parteizeitung Prawda (dt. Wahrheit) titelt am 23. Juni 1941: „Unsere Sache ist die richtige. Der Feind wird zerschlagen. Der Sieg wird unser sein.“ Ein Korrespondent: „Absolute Ruhe herrscht in der belarussischen Hauptstadt. Die Menschen sind auf der Hut, selbstbewusst und wissen sich im Recht. Solch ein Volk ist unbesiegbar.“
Wie aber die Kriegshandlungen genau verlaufen, davon haben selbst hochrangige Militärs kein klares Bild − der Kontakt zu den sowjetischen Einheiten im Westen funktioniert nur sporadisch und Informationen kommen verspätet an.
Die Rote Armee zieht sich zurück, die meisten sowjetischen Soldaten werden an diesem Frontabschnitt in den Kesselschlachten um Białystok und Minsk getötet oder gefangen genommen. Darüber erzählen wir genauer in unserer zweiten Folge.
Schon am 28. Juni erreichen deutsche Truppenverbände Minsk. Für die Sowjetunion ist das ein Desaster.
In Drasdy erfahren Marat und die anderen Kinder vom Wehrkundelehrer auf dem Appellplatz vom Kriegsbeginn. Aber keine Panik − niemand zweifelt an der Unbesiegbarkeit der Roten Armee. Manche zeigen gar fröhliche Aufregung: „Jetzt zeigen wir ihnen, was es heißt, uns anzugreifen“. Dass es die deutschen Truppen bald nach Minsk schaffen könnten, erwartet am 22. Juni niemand − nicht im Pionierlager, nicht in Minsk, nicht einmal in der sowjetischen Regierung in Moskau.
Aber keine Panik − niemand zweifelt an der Unbesiegbarkeit der Roten Armee.
Wie gewohnt kommen an jenem Sonntag die Eltern nach Drasdy zu Besuch.
Marats Vater ist auch da. Seltsam erscheint es dem Jungen, dass der Vater so schnell wieder zurück in die Stadt will. Ob er sich, entgegen seiner zuversichtlichen Reden, nicht doch um die Mutter sorgt, die dienstlich irgendwo im Westen des Landes unterwegs ist? Marat jedenfalls ist bereit, das Pionierlager direkt zu verlassen. Doch der Vater vertröstet ihn: „Kein Grund, alles zu überstürzen.“ Die Mutter sei ja noch nicht wieder zu Hause, er selbst müsse häufiger in die Fabrik. Und was solle Marat dann allein in der Wohnung?
„Außerdem wurde uns schon mitgeteilt, dass heute keine Kinder aus dem Lager entlassen werden. Wir dürfen keine Panik verbreiten.”
Die Lagerleitung wirft einigen Eltern tatsächlich Panikmache vor und droht mit Repressionen. Man geht noch von einem Ende der Kriegshandlungen innerhalb weniger Tage aus.
Marats Vater will übermorgen wiederkommen, um seinen Jungen abzuholen. Wenn er dann in der Fabrik freibekommt. Er fährt allein heim. Und Marat ist am Nachmittag des 22. Juni beim Sarniza-Spiel dabei.
Die Kinder werden in fünf Kommandos aufgeteilt, platzieren sich im nahen Wald und stürzen nach einem Hornsignal in Richtung Lager. Zwischen den Bäumen ertönen „Hurraaaa!“-Schreie, knacken brechende Zweige und klappern die Ratschen, eine selbstgebastelte Imitation von Maschinengewehrfeuer.
Gewinnen sollte das Kommando, das als erstes vollzählig am Appellplatz ankommt und die sowjetische Fahne hisst. Ob schlechtes Vorzeichen oder schlicht Übereifer der Kinder: Das schnellste Team hisst die Fahne verkehrt herum – und so geht das Spiel ohne Gewinner aus.
Am nächsten Tag entdecken die Kinder in Drasdy deutsche Flugzeuge am Himmel und hören erstmals die Explosionen der Bombardierung von Minsk. Morgen sollen sie von ihren Eltern abgeholt werden. Marat wartet auf seinen Vater.
„Seid nicht traurig, Jungs! Bald kehren wir zurück“
Als am letzten Tag der Lagerzeit nur wenige Kinder von ihren Eltern abgeholt werden, überfällt Marat und die anderen Kinder Panik. Die Erwachsenen im Lager heizen sie zusätzlich an: Einer nach dem Anderen verschwinden viele Mitarbeiter·innen, auch der Direktor. Die Kinder bleiben auf sich allein gestellt.
Das Ferienlager wird zum Ort des schmerzhaften Verlassenseins.
Die Kinder sehen die Kampfflugzeuge und hören die Schusswechsel. Sie erkennen die schnelle Auflösung der sowjetischen Macht. Und realisieren bald die Ausweglosigkeit ihrer Lage.
Sie sehen, wie sich die Soldaten einer Einheit der sowjetischen Luftabwehr mit mutlos gesenkten Köpfen und zwei Flak-Geschützen auf Pferdegespannen zurückziehen. Ihr Kommandeur sieht den Kummer der Kinder und wendet sich an sie: „Seid nicht traurig, Jungs! Wir werden die Deutschen doch noch zerschmettern, bald kehren wir zurück.”
Doch stattdessen begegnen die Kinder deutschen Wehrmachtssoldaten. Drei ältere Freunde von Marat laufen aus dem Lager zum Getreidefeld, von wo aus sie am Vortag einen Schusswechsel gehört hatten. Doch statt nützlicher Trophäen oder Waffen stoßen sie dort auf echte deutsche Soldaten. Beim Versuch zu fliehen, schießen die Deutschen. Einen Jungen treffen sie am Kopf. Verwundet kriecht er noch einen halben Kilometer. Als die anderen ihn finden, hat er schon zu viel Blut verloren. Er wird auf dem Lagergelände begraben. Für Marat und die Gruppe im Lager ist er das erste unschuldige Kriegsopfer − ein erschossener Junge, dessen Tod die Eltern nicht einmal beweinen können.
Mitte Juli, etwa einen Monat nach Kriegsbeginn, kommt eine deutsche Einheit ins Lager. Das Ferienheim wird zum Kinderheim. Die Leitung übernimmt der ehemalige Wehrkundeleiter des Lagers, das Personal wird reduziert.
Der strukturierte Lageralltag löst sich auf. Die Essensrationen verringern sich. Doch die schlimmste Erkenntnis für die Kinder ist: Niemand wird sie mehr abholen. Sie bleiben allein.
Im Chaos des Krieges können viele Eltern ihre Kinder nicht abholen. Marats Vater bleibt zwar in Minsk, muss aber − wie viele andere Sowjetbürger − an seiner Arbeitsstelle in der Fabrik bleiben. Erst am 25. Juni schließt er sich einer chaotischen Massenflucht an, die ihn nach Russland führt. Die Route hält er in seinem Notizbuch fest:
25.06.41 Frühmorgens von Minsk zur Sowchose Erster Mai gefahren
26.06. Zu Fuß zur Borissower (Moskauer) Chaussee gelaufen, unterwegs Bombardierung. Hitze. Die ganze Zeit unter Feuer. Ich weinte, als man die hungrigen Fabrikkinder fütterte.
27.06. Morgens 12 bis 15 km vor Borissow Deutsche auf Motorrädern gesehen. Am Tag in Borissow angekommen.
28.06. Tag. Krupki − Maschinengewehrbeschuss aus einem Flugzeug.
29.06. Orscha, abgefahren.
30.06. Witebsk. Morgens abgefahren. 13:30 Newel, 17:30 Welikije Luki.
02.07. Wolga in Rybinsk.
03.07. Jaroslawl.
04.07 Iwanowo.
05.07. Gorki.
06.07. Richtung Kirow. Abends Station Prosniza.
09.07. Chemiewerk Kirowo-Tschepetzk
18.07. Mein Junge, warum bin ich nicht bei dir, wenn wir auch sterben sollen, dann zusammen.
31.07. Wir werden uns wiedersehen und anlächeln … Wir haben uns nämlich gar nicht verabschiedet.
Marat ist nun 1700 Kilometer von seinem Vater getrennt.
Kälte, Hunger und Schmerz
Marat lernt nun das ganze Elend des Krieges kennen. Die deutschen Besatzungsbehörden bestimmen die Versorgungsquoten und regeln, wer in den Kinderheimen betreut werden darf und wer nicht. Bald werden alle jüdischen Kinder abgeholt und verschwinden spurlos. Für die übrigen Kinder bleiben Hunger, Kälte, mangelnde Hygiene und Epidemien.
Darmkrankheiten und Vergiftungen sind wegen des oft verdorbenen Essens an der Tagesordnung
Die Kinder fristen ihren Alltag in kahlen, dunklen, kalten und verunreinigten Räumen ohne Möbel, oft ohne Betten, Licht oder richtige Fenster. Im Winter ziehen sie sich wochenlang nicht aus und schlafen bekleidet nebeneinander, um nicht zu erfrieren. Und um nicht bestohlen zu werden. Obwohl in den Kinderheimen ärztliches Personal vorgesehen ist, haben praktisch alle Kinder Läuse, Krätze, Blutgeschwüre, Skorbut und Diarrhö. Darmkrankheiten und Vergiftungen sind wegen des oft verdorbenen Essens an der Tagesordnung. Die Kleinsten bekommen so schwere Rachitis, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können.
Viele Kinder sterben an Hunger und Krankheit. Ihr Alltag ist nun reines Überleben.
Das Hauptproblem bleibt der Hunger. Die Essensrationen sind sehr knapp, also versuchen die Kinder, sich selbst zu versorgen. Sie suchen auf Feldern nach Kartoffeln. Marat lernt so, dass notfalls auch frische Kartoffeln roh essbar sind. Andere sagen sogar: „Nach dem Krieg erzählen wir allen, dass man nicht unbedingt Äpfel naschen muss. Rohe Kartoffeln sind noch leckerer.”
Im Herbst klauen die Kinder aus den Gärten Gemüse. Trotz aller Angst, gefangen zu werden. Im Winter müssen sie in die Dörfer gehen, um sich Essbares zu erbetteln.
Der Winter bringt auch Kälte und Erfrierungen. Marat hat keine Winterschuhe, darum bekommt er Erfrierungen an den Füßen und muss in die Isolierstation. Dort bekommt er zwar besseres Essen, die Fürsorge einer lieb gewonnenen Pflegerin und kann sich sogar an einem beheizten Ofen aufwärmen. Der permanente Hunger lässt sich aber nicht abstellen. Und bis auf eine antiseptische Lösung und Verbandszeug gibt es keine Medikamente.
Marats beide Füße sind angeschwollen und brennen. Die Gefahr einer Sepsis ist groß. Nachts schreit er vor Schmerzen. Fast einen Monat lang. Marat wünscht sich schon den eigenen Tod.
Marats Pflegerin befürchtet, dass Marat seine Erfrierung nicht überleben könnte und schlägt vor, ihn zur Amputation nach Minsk zu schicken. Doch Marat hat Glück: Im Sommer 1942 ist er genesen. Hat allerdings acht von zehn Zehen verloren. Und seine Tortur endet damit noch lange nicht.
Im Frühjahr 1942 dann kommen Deutsche mit einer Verordnung nach Drasdy: Alle Kinder sollen in ein anderes Kinderheim gebracht werden.
Unterm Diktat der Stärke
Marat kommt also im Frühling 1942 in das neue Kinderheim Astraschyzki Haradok auf dem Gelände einer ehemaligen Tuberkulosepflegestelle. Der Fluss Usjasha zieht im großen Bogen eine natürliche Grenze um das Gelände. Zu dem weitläufigen Heimgrundstück gehören ein Wald, ein Schweine- und Pferdestall und ein Kartoffelacker.
Der Heimdirektor trägt immer eine Peitsche bei sich, die auch Marat zweimal zu spüren bekommt.
Marat erlebt hier einen deutlich mehr geregelten Alltag, die Kinder müssen nahezu täglich landwirtschaftliche Hilfsarbeiten übernehmen. Endlich gibt es auch wieder mehr zu Essen. Gleichzeitig gelten strengere Regeln: Bei Verstoß drohen Essensentzug oder Rauswurf. Oder Prügel: Der Heimdirektor mit dem passend klangvollen Familiennamen Generalow trägt immer eine Peitsche bei sich, die auch Marat zweimal zu spüren bekommt.
Gleichzeitig entwickeln auch die Kinder in dieser Extremsituation besondere Spielregeln und Überlebenspraktiken. Untereinander herrschen Hierarchie und Rollenverteilung, die durch Rituale immer wieder neu geordnet, verteidigt und verteilt werden. Entscheidend ist die Macht des Stärkeren. Gewalt setzt sich durch.
Die Gewalt unter den Kindern dient der Selbstbehauptung und dem Überleben zugleich. Sie erlernen sie von den NS-Besatzern und wenden sie skrupellos an. Besonders kritische Situationen entstehen, wenn unfreiwillig Verlassene wie Marat im Heim Astraschyzki Haradok auf Straßenkinder treffen, die ihre Gewalterfahrungen aus der Vorkriegszeit in die Kinderheime mitbringen. Die Erwachsenen können da nur wenig ausrichten.
Die Gewalt unter den Kindern dient der Selbstbehauptung und dem Überleben zugleich. Sie erlernen sie von den NS-Besatzern und wenden sie skrupellos an.
Besonders schwer haben es schwache, jüdische und Roma-Kinder. Überhaupt alle, die aufgrund ihres Äußeren in den Verdacht geraten, nicht „arisch“ zu sein. Obwohl die deutschen Besatzer für die Kinder das absolute Böse darstellen, übernehmen sie doch intuitiv die rassistischen Zuschreibungen der Nationalsozialisten, die bestimmte Gruppen als minderwertig einstufen.
Der junge Marat muss auch bemerkt haben, wie jüdische Kinder, die vor Ermordung fliehen und unter falscher Identität im Kinderheim unterkommen, sich stets panisch davor fürchten, erkannt und getötet zu werden. Oft erscheint ihre Angst vor Gleichaltrigen größer als die vor Erwachsenen.
Wer als jüdisch gilt, wird häufig gehänselt, erniedrigt, geschlagen und erpresst. Ihnen werden Essensrationen, Bettwäsche und Kleidung weggenommen. Sie sind psychischem Terror und regelmäßigen Drangsalierungen ausgesetzt. Das passiert meistens abends: Dann wird ihnen kaltes Wasser ins Bett geschüttet oder man zwingt sie, vor aller Augen Läuse mit den Zähnen zu zerquetschen.
Wer als jüdisch gilt, wird häufig gehänselt, erniedrigt, geschlagen und erpresst.
Frühere Freundschaften werden durch Gruppenbildungen oder Rückzug ins Einzelgängertum abgelöst. Ältere und stärkere Kinder nehmen manchmal Mädchen und kleinere Kinder in Schutz oder bringen ihnen Essen mit. Aber in der Regel ist jedes Kind beim Überleben auf sich selbst gestellt.
Marat lernt auch, wie die Essensbeschaffung nun nach klaren Regeln funktioniert. Zu diesen ungeschriebenen Gesetzen gehören die Aufteilung der Reviere und die Mitnahme fester Essensreste für die im Heim Zurückgebliebenen. Auch wer diese Regeln verletzt, muss mit Strafen und Häme der anderen Kinder rechnen: körperliche Gewalt, Ächtung oder Essensentzug. Als schlimmste Strafe gilt das demonstrative Verprügeln vor den anderen Kindern. Einige halten den Verlust ihrer Würde nicht aus und fliehen aus dem Heim.
Dabei sind Kinderheime doch für viele Kinder eine Überlebensstrategie. Gerade für jüdische Kinder bieten sie Verstecke, wo sie den Holocaust überleben können. In Minsk gibt es damals die Kinderheime Nr. 2 und Nr. 7, beide unter dem Schutz der evangelischen Baptisten. Die Gemeinde kann dort insgesamt 72 jüdische Kinder retten.
Und alle Kinder haben die Hoffnung, eines Tages von der Roten Armee befreit zu werden.
Nach den ersten Niederlagen und großen Gebietsverlusten der Roten Armee im Westen und Süden des Landes 1941–42, ändert sich die Situation im Winter 1942–43.
Der Roten Armee gelingt es, Gegenoffensiven an mehreren Frontabschnitten durchzuführen. Die Sowjetunion übernimmt die Initiative und zwingt die Wehrmacht an der ganzen Frontlinie zum Rückzug.
1943 werden viele ukrainische und russische Städte befreit, darunter Belgorod, Charkiw, Mariupol, Orjol, Smolensk und am 3. November 1943 Kyjiw.
Im Frühjahr 1944 kann die Rote Armee den deutschen Blockadering um Leningrad durchbrechen und weitere Gebiete in der Ukraine befreien, unter anderem die Region Wolhynien mit der kleinen Stadt Hoschtsch, über die wir in unserer ersten Folge erzählt haben.
Zum Juli–August 1944 befreit die Rote Armee auch den größten Teil von Belarus, darunter Minsk und Astraschyzki Haradok, wo sich das Kinderheim von Marat Kusnezow befindet.
Doch Marat selbst ist zum Zeitpunkt der Befreiung nicht mehr da.
Der kleine Sklave
Im Frühjahr 1944 kommt ein Bus nach Astraschyzki Haradok. Direktor Generalow fordert alle Kinder über 12 Jahre auf, sich auf einen Umzug in ein anderes Kinderheim in Minsk vorzubereiten. Dort bekämen sie besseres Essen, verspricht er. Viele Kinder sind skeptisch.
Doch Marat freut sich, wieder in seine Heimatstadt zurückzukehren. Zudem gibt es ein verfrühtes Mittagessen. Marat meldet sich, obwohl er sich nicht mehr sicher ist, ob er wirklich schon 12 ist. Mit etwa 40 anderen Kindern fährt er in Begleitung des Direktors und eines Deutschen mit dem Bus nach Minsk. Seine Heimatstadt hat er zuletzt vor drei Jahren gesehen, im Sommer 1941.
Nun ist sie stark zerstört und verängstigt ihn.
Unterwegs steigen zwei Jungs ein. Einer erzählt, man habe etwa 20 Kinder aus ihrem Minsker Kinderheim abtransportiert. Die zwei hätten sich versteckt, wurden aber entdeckt. „Jetzt bringt man uns zum Güterbahnhof, scheucht uns in Viehwaggons und dann, hopp, nach Deutschland!”
„Jetzt bringt man uns zum Güterbahnhof, scheucht uns in Viehwaggons und dann, hopp, nach Deutschland!”
Der Bus stoppt tatsächlich bald vor einem Güterzug. Das Versprechen vom Umzug in ein besseres Heim erweist sich als dreiste Lüge.
Marat erkennt, dass hier bereits 150 bis 200 Minderjährige warten. Ein deutscher Offizier erklärt, ihre Reise nach Deutschland sei eine „humane Maßnahme“, dort erwarte sie dann ein besseres Leben.
Aber auch: Wer versuche zu fliehen, werde erschossen.
Eingepfercht in die Viehwaggons − 80 bis 90 Kinder pro Wagen − beginnt hier ihre Reise ins Unbekannte, in das ihnen allen nur als grausam bekannte Deutschland.
Die Kinder fahren in Todesangst.
Aus Minsk werden die Kinder in Viehwaggons zuerst nach Baranawitschy und dort mit Lastwagen zu einem Sammelpunkt gebracht.
In Baranawitschy gibt es zwischen April 1942 und Juni 1944 zwei lagerartige Sammelpunkte. Von den beiden werden nachweislich monatlich 300 bis 400 Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt.
Die Versorgung hier war so schlecht, dass die Heimkinder denken mussten, es handele sich um Filtration nach Überlebenswille.
Nach fünf Tagen im Sammelpunkt werden die Kinder mit Lastwagen zurück zum Bahnhof Baranawitschy gebracht und weiter mit dem gleichen Viehzug gen Deutschland geschickt.
Der Zug fährt sehr langsam und hält dauernd an kleinen und großen Stationen, um andere Züge vorbei zu lassen. Nachts stoppt der Zug auch immer.
Mit dem Morgengrauen fährt er weiter. An manchen Haltestellen können die Kinder kurz rausgehen. Als Verpflegung bekommen sie pro Tag 300 bis 400 Gramm Brot und ein Stück Margarine.
In Warschau hält neben ihnen ein anderer Zug. Aus den Öffnungen strecken offensichtlich entkräftete Menschen unzählige Hände durch den Stacheldraht. In der Hoffnung, dass ihnen jemand etwas Essbares zusteckt. Das sind sowjetische Kriegsgefangene, über deren Schicksal wir in der zweiten Folge erzählt haben.
Marats Reise dauert fast einen Monat. Die Kinder erreichen Deutschland, das Land, das sie als wildes Tier wahrnehmen, das in ihrem Heimatland Zerstörung und Tod verbreitet. Nun kommen sie in die Höhle dieses Biestes.
Sie steigen im Brandenburger Falkenberg aus.
Die Mehrheit der Kinder fährt weiter nach Hamburg, wo sie in Gruppen getrennt und weiter verteilt werden.
Marat und fünf weitere Jungen werden in ein Zwangsarbeiterlager ins kleine Munster in der Lüneburger Heide gebracht.
Marat teilt im letzten Kriegsjahr das Schicksal von bis zu 33.000 Kindern unter 16 Jahren aus Belarus, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt und in tausenden Haftstätten untergebracht werden.
In Munster wird Marat zu einem Schlosser geschickt. Der Junge fühlt sich verkauft. Er erweist sich jedoch als tollpatschig und aus Sicht seines „Besitzers“ als wertlos. An ein Sägewerk weitergereicht, wird er dort in verschiedenen Funktionen eingesetzt.
Marat lebt mit einigen anderen Kindern und Erwachsenen im Zwangsarbeiterlager. Wie früher im Kinderheim reicht das rationierte schlechte Essen nicht aus. Wieder Hunger. Wieder verlassen die Kinder oft das Lager, um sich etwas Essbares zu beschaffen.
Der Chef des Sägewerks lässt Marat auch auf seinem privaten Hof schuften. Wie ein Sklave muss der Junge für alle möglichen Arbeiten im Haushalt herhalten: den Schweinestall ausmisten, Nutztiere versorgen, putzen und ernten. Immerhin gelingt es ihm manchmal beim Misten des Hühnerstalls, heimlich ein Ei zu essen. Doch am Apfelbaum wird er erwischt und ausgepeitscht.
Mit Wintereinbruch kehren bei Frost Marats Schmerzen in den Füßen zurück.
Dieser Winter 1944/45 ist anders. Deutschlands Niederlage liegt in der Luft.
Doch dieser Winter 1944/45 ist anders. Deutschlands Niederlage liegt in der Luft.
Aber Marat erlebt die langersehnte Befreiung nicht bewusst.
Kurz zuvor wird er bei einem Bombenangriff der Alliierten schwer verletzt. Erst nach Wochen auf einer Krankenstation erfährt Marat vom Kriegsende. Erst am frühen Morgen des 3. September 1945 steigt er im stark zerstörten Minsk, seiner Heimat, aus dem Zug. Und wohin nun?
Marat will das Haus sehen, in dem er mit seinen Eltern vorm Krieg gelebt hat. Dann will er sich in einem Kinderheim melden. Sein Elternhaus gibt es nicht mehr, es ist niedergebrannt. Also kehrt Marat zum Bahnhof zurück. Dort kommt ihm ein Paar entgegen: ein hinkender Mann und eine Frau.
Marat stellt sich ihnen in den Weg.
„Was willst Du, Junge?“, fragt der Mann verwirrt.
„Das bin doch ich, Marat!“
So trifft Marat hier nach mehr als vier Jahren tatsächlich zufällig auf seine Eltern. Symbolisch: Einen Tag nach dem offiziellen Ende des gesamten Zweiten Weltkriegs endet der Krieg auch für Marat und seine Eltern.
Diese zufällige Begegnung von Marat und seinen Eltern mag wie eine Filmszene wirken. Für ihn ist es tatsächlich ein Happy End: Er ist wieder bei seiner Familie, macht einen Schul- und Hochschulabschluss und wird Arzt – Psychotherapeut für Kinder.
Contributors
- Drehbuch und Text: Yuliya von Saal und Leonid A. Klimov
- Übersetzung der Quelle von Marat Kusnezow: Friederike Meltendorf
- Illustrationen: Anna Che
- Animationen: VICTORIA SPIRYAGINA UND PHILIPP YARIN
- Redaktion: Peggy Lohse
- Karten: ARTYOM SCHTSCHENNIKOW
- Datenaufbereitung: LEONID A. KLIMOV, ARTYOM SCHTSCHENNIKOW
- Design: village one
- Für die Hilfe bei der Arbeit an der Folge danken wir NINA FRIEß
- Veröffentlicht: 30. Mai 2024