DerKriegUndSeineOpfer
Sechste Folge: Nur weil sie Roma sind
Der Morgen des 24. April 1942 entscheidet über Leben und Tod. Die rund 300 Einwohner·innen von Alexandrowka müssen sich am Dorfsee versammeln. Bewaffnete SS-Leute haben die Frauen und Männer, Kinder und Alten umstellt, ihre Schäferhunde fletschen die Zähne. Ein deutscher Offizier verliest die Namen der Dorfbewohner·innen. Wer als „Zigeuner“ gelistet ist, hat sich auf die eine Seite zu stellen. Die Übrigen – etwa ein Drittel der Dorfgemeinschaft machten „Russen“ aus – dürfen auf die andere Seite und bald in ihre Häuser zurückkehren.
Knapp 200 „Zigeuner“ bleiben mit der SS zurück.
Die Männer sollen Gruben graben. Frauen und Kinder bekommen Panik. Die SS-Leute schlagen mit Gewehrkolben und Peitschen auf sie ein, um sie zum Schweigen zu bringen. Einige Frauen rufen verzweifelt, sie seien gar keine „Zigeunerinnen“, sondern Russinnen.
Dann befehlen ihnen die deutschen Offiziere, sich auszuziehen. Anhand der nackten Körper und ihrer rassenideologischen Überzeugungen werden die Nationalsozialisten entscheiden, welche Frau leben darf und welche sterben muss.
Eine dieser Frauen ist Lidija Krylowa.
Die Smolensker Muster-Kolchosen
Das westrussische Dorf Alexandrowka liegt wenige Kilometer südwestlich von Smolensk. 1937 wird hier eine sogenannte nationale „Zigeunerkolchose“ namens „Stalinverfassung“ gegründet. Unter den Gründern sind Lidijas Eltern – Klawdija und Nikita Krylowy – beide gehören zu den Roma.
Früher lebten sie als Mittelbauern im Dorf Lukinitschi. Dort bewirtschaften sie aus eigenen Kräften ihren Hof und ernährten davon die eigene Familie. 1933 ziehen die Krylows nach Korenewschtschina bei Smolensk, um in der Romani Kolchose „Oktjabr“ (dt. Oktober) zu arbeiten. Diese Kolchose entwickelt sich zu einem führenden Agrarbetrieb im Bezirk Smolensk und wird mehrfach ausgezeichnet.
Die Krylows gelten als mustergültige Bauern und gehören zu jenen Familien, die von der Rajon-Verwaltung in Absprache mit der Kolchose-Leitung fünf Kilometer und zwei Orte weiter nach Alexandrowka geschickt werden, um dort die neue Kolchose aufzubauen. Ähnlich wie in Korenewschtschina sind hier weitestgehend Roma und Romnja beschäftigt, aber auch einige russische Bauernfamilien.
Die Krylow-Familie hat insgesamt sechs Kinder: drei Jungen und drei Mädchen. Lidija wurde 1923 in Lukinitschi geboren, fünf Jahre nach der Oktoberrevolution. Als sie in Alexandrowka vor der Erschießungsgrube steht, ist sie 19 Jahre alt.
Roma sind in verschiedenen Regionen der Sowjetunion als Minderheit vertreten.
Laut Volkszählung leben 1939 in der gesamten Sowjetunion knapp 90.000 Roma und Romnja.
Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 170 Millionen Menschen sind das rund 0,1 Prozent.
Ab Mitte der 1920er Jahre liegt der Schwerpunkt der sowjetischen Nationalitätenpolitik in der kompakten Ansiedlung und Kollektivierung der Roma: In den 1920er und 1930er Jahren entstehen insgesamt über 50 „nationale Zigeunerkolchosen“.
Zur Roma-Politik gehören außerdem die Alphabetisierung und „sozialistische Bildung“ der Minderheiten: 1925 wird von Romani Aktivisten die „Allrussische Zigeunerunion“ gegründet. Für die Romani Sprache wird eine kyrillische Schreibweise entwickelt, mit der erstmals Fibeln, Schulbücher und Zeitschriften veröffentlicht werden. In Schulen werden „Zigeunerklassen“ als Vorstufen zu eigenen „Zigeunerschulen“ eingerichtet. Außerdem entsteht 1931 das Moskauer „Zigeunertheater“ Romėn.
Mehrere Romani Kolchosen entstehen in den Regionen Perm im Ural …
… und im Nordkaukasus mit den Regionen Rostow, Krasnodar und Stawropol. Über die Kolchose Trud Romen (dt. Arbeitende Zigeuner) sowie den ersten „Zigeunerdorfsowjet“ im Rajon Mineralnyje Wody erscheinen sogar Presseberichte im Ausland.
Zur Vorzeigeregion, was die Kollektivierung der Roma betrifft, entwickelt sich jedoch die Oblast Smolensk in Westrussland. Zwar sind Roma auch hier nur eine kleine Minderheit: ca. 3300 Menschen laut Volkszählung. Viele der hiesigen Romani Familien sind jedoch schon seit Generationen in der Landwirtschaft tätig.
Dank ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen entstehen sowjetische Muster-Kolchosen wie „Oktober“, die in der sowjetischen Presse immer wieder gelobt werden.
Als letzte Romani Kolchose in Smolensk wird 1937 „Stalinverfassung“ in Alexandrowka gegründet. Ihr wirtschaftlicher Schwerpunkt ist die Viehzucht. Mit rund 300 Arbeitskräften gehört sie zu den größten Romani Kolchosen unionsweit.
Lidija führt ein gewöhnliches sowjetisches Leben: In der Schule absolviert sie sieben Schulklassen. Das ist seit einem Parteitag 1934 die übliche Regelschulzeit in der Sowjetunion. Lidija geht auch zu den Pionieren und später zum Komsomol, der Jugendorganisation der sowjetischen Kommunistischen Partei.
Nach der Schule macht sie eine Ausbildung in einem elektrischen Umspannwerk. Dann arbeitet sie ab April 1941 im Umspannwerk der belarussischen Stadt Orscha, rund 120 Kilometer westlich von Alexandrowka. Sie ist stolz darauf, auf eigenen Füßen zu stehen und ihrem erlernten Beruf nachzugehen. Doch Lidijas Freude über den gelungenen Start ins Berufsleben währt nicht lange.
Am 22. Juni 1941 überfällt die Wehrmacht die Sowjetunion und dringt schnell vor. In Richtung Smolensk ist die Heeresgruppe Mitte auf dem Vormarsch.
Schon die erste Schlacht mit mehreren Kesseln zwischen Białystok und Minsk ist für die Wehrmacht ein großer Erfolg, für die Rote Armee ein Desaster.
Nach kaum einer Woche nimmt die Wehrmacht den größten Teil von Minsk ein. Die letzten Einheiten der Roten Armee kapitulieren am 9. Juli.
Während die restlichen Einheiten der Roten Armee in Minsk noch versuchen, Widerstand zu leisten, drängt die Wehrmacht weiter nach Osten, Richtung Smolensk.
Vom Norden kommt die Panzergruppe 3 unter Hermann Hoth, vom Süden die Panzergruppe 2 unter Heinz Guderian dazu. Obwohl die Rote Armee Dutzende Divisionen zusammenzieht, umgehen die deutschen Panzerverbände die Verteidigungslinien und kesseln die sowjetischen Einheiten westlich von Smolensk ein.
Am 16. Juli besetzt die Wehrmacht die Stadt Orscha in der Belarussischen Sowjetrepublik, wo Lidija Krylowa im Umspannwerk arbeitete.
Am selben Tag nimmt die Wehrmacht auch Smolensk ein. Aber der Kampf im Kessel vor den Toren der Stadt dauert noch bis Anfang August. Die Rote Armee erleidet weitere große Verluste: Sie verliert tausende Panzer, rund 300.000 Soldaten fallen oder geraten in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Die Stadt Smolensk bleibt bis Herbst 1943 unter deutscher Besatzung. Damit auch die Roma-Kolchose in Alexandrowka, wenige Kilometer außerhalb der Stadt.
„Wir haben doch niemandem etwas getan!“
Als die Front immer schneller näher rückt, eilt Lidija Krylowa von Orscha zurück zu ihrer Familie nach Alexandrowka. Doch dort trifft sie nur ihre Schwester Marija mit ihrem kleinen Sohn an. Von Nachbarn erfährt sie, dass die Eltern und die anderen Geschwister schon ins Hinterland evakuiert worden seien. Für Lidija und Marija kommt das nicht mehr in Frage. Zu heftig wird im Kessel vor Smolensk gekämpft. Die Schwestern geraten unter deutsche Besatzung.
Für die Bewohner·innen von Alexandrowka beginnt eine Zeit der Ungewissheit. Sie arbeiten weiter in der Landwirtschaft, müssen nun aber Abgaben an die deutschen Besatzer leisten. Einige deutsche Soldaten und ein Offizier nehmen im Dorf Quartier.
Bald erzählt man sich im Dorf von den Entwicklungen in der Stadt: In Smolensk müssen jüdische Menschen nun Abzeichen tragen. Ein Ghetto entsteht. Kommunisten werden verhaftet. Ein russischer Nachbar erzählt, dass die Deutschen auch gegen „Zigeuner“ vorgehen. Das erscheint den Romani Kolchosbauern absurd: „Wir haben doch niemandem etwas getan!“
Die Sorgen unter den Rom·nja in Alexandrowka halten sich nur kurz. Tatsächlich ahnen sie nicht, was noch kommt.
Ein gutes halbes Jahr später, im März 1942, macht eine Schreckensnachricht die Runde: Im nahegelegenen Krasny Bor wurden vier Roma erschossen. Die Deutschen warfen ihnen vor, Partisanen unterstützt zu haben. Wenn dem so ist, starben sie den Heldentod, ist man sich unter vorgehaltener Hand einig. Diese Sorgen unter den Rom·nja in Alexandrowka halten sich jedoch nur kurz. Tatsächlich ahnen sie nicht, was noch kommt.
Dann tauchen am frühen Abend des 23. April 1942 zwei fremde deutsche Offiziere in Alexandrowka auf. Sie beauftragen die Buchhalterin des Dorfes, eine Liste aller Bewohner zu erstellen. Unbedingt mit Angabe zur „Nationalität“ – unter dieser Rubrik wurde in sowjetischen Pässen die ethnische Zugehörigkeit vermerkt. Die Frau geht davon aus, dass es um die Einteilung zu Arbeitseinsätzen gehe. Und arbeitet die ganze Nacht durch. In der Liste steht auch Lidijas Name.
„Zigeuner nach links, Russen nach rechts”
Am folgenden Morgen, dem 24. April 1942 um fünf Uhr, dringen bewaffnete SS-Männer − vermutlich von der Sicherheitspolizei aus dem besetzten Smolensk − in zahlreiche Wohnhäuser von Alexandrowka ein. Auch bei den schlafenden Krylow-Schwestern Lidija und Marija mit ihrem Sohn. Die Deutschen treiben sie direkt aus dem Bett auf die Straße. Dabei schlagen sie mit Gewehrkolben auf die Frauen ein. Lidija kann gerade noch ein Kleid und einen Mantel greifen. Ihre Schwester bleibt fast unbekleidet mit ihrem Kind auf dem Arm.
So jagen die SS-Leute die Schwestern durch die Kälte zum See am Dorfrand. Alle aus Alexandrowka müssen dorthin, ebenso die Einwohner des benachbarten Dewkino, das auch zur Kolchose „Stalinverfassung“ gehört.
Ein deutscher Offizier liest die Liste laut vor, die die Buchhalterin über Nacht erstellt hat. Die Namen aller Dorfbewohner·innen einzeln. Wiederum mit Nationalität.
„Zigeuner“ müssen zur Seite, die Übrigen können nach Hause gehen.
„Zigeuner“ müssen zur Seite, die Übrigen können nach Hause gehen. Etwa 200 „Zigeuner“ bleiben mit der SS zurück. An die Männer unter ihnen werden Schaufeln verteilt. Sie sollen dreihundert Meter weiter zwei Gruben ausheben. Dabei ist der Boden noch teilweise gefroren. Später wird ein anderer Zeitzeuge aussagen, man habe die oberste Bodenschicht mit Dynamit aufsprengen müssen.
Die Frauen und Kinder werden panisch, beginnen zu schreien. Die SS-Leute prügeln auf sie ein, um sie ruhigzustellen. Einige Frauen beschweren sich über Fehler in der Liste, sie seien doch gar keine „Zigeunerinnen“, sondern Russinnen.
Irgendwann lenken die Offiziere ein. Sie befehlen den Frauen, sich auszuziehen. Dann begutachten sie die nackten Körper – nach Hautfarbe, Haarfarbe und Form der Ohren. Anschließend werden einige Frauen, teils mit Kindern, freigelassen. Auch einzelne männliche Verwandte. Insgesamt um die zwanzig Personen.
Auch Lidijas Schwester Marija geht bei jener „rassischen Begutachtung“ als Russin durch und kann mit ihrem Kind heimgehen. Lidija selbst aber wird in die Menge zurückgestoßen. In Todesangst unternimmt sie einen weiteren Rettungsversuch: Sie sagt zu einem Offizier, dass ihre Mutter Russin sei und sie sich mit ihrem Pass als Russin ausweisen könne.
Der Offizier zieht ihr Kleid hoch und betrachtet ihren nackten Körper. Doch dann schubst er sie zurück in die Menge.
Der Offizier zieht ihr Kleid hoch und betrachtet ihren nackten Körper. Doch dann schubst er sie zurück in die Menge. Zwar darf sie nach langem Bitten und nur unter Begleitung doch noch ihre Papiere aus dem Haus holen. Doch als sie zurückkehrt, interessiert sich schon niemand mehr für ihren Pass.
Gegen 15 Uhr treiben die Deutschen die Menge der Todgeweihten in eine Scheune. Alle müssen sich hier bis auf die Unterwäsche entkleiden. Anschließend familienweise zu den ausgehobenen Gruben gehen.
Lidija steht in der Mitte der Menschenmenge. Vor ihren Augen erschießt ein deutscher Soldat mit einer Pistole nacheinander etwa siebzig Frauen und Kinder. Kommen Mütter mit Kindern, werden erst die Kinder um die zehn bis 12 Jahre erschossen. Säuglinge, Kleinkinder und Greise werden lebendig in die Grube geworfen.
Kommen Mütter mit Kindern, werden erst die Kinder um die zehn bis 12 Jahre vor ihren Augen erschossen.
Als sie selbst vor der Grube steht, ergreift Lidija die Hand eines anderen Offiziers und fleht ihn an, doch noch einmal ihren Pass zu prüfen.
Und er erkennt das Dokument plötzlich an.
Im letzten Moment wird Lidija von den Mordgruben fortgeschickt. Auf dem Rückweg erblickt sie die männlichen Roma, die unter Bewachung mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Als alle Frauen und Kinder erschossen sind, werden sie die Grube zuschütten müssen, bevor die SS-Männer auch sie erschießen.
Am Abend fahren die Deutschen mit den Wertsachen der Opfer zurück nach Smolensk.
Lidija kommt spät am Abend noch einmal zum Tatort des Massenmordes: In der größeren Grube liegen die toten Frauen, in der kleineren die Männer.
Jahrzehnte später werden Nachbarn über Lidija Krylowa behaupten, dass einer der deutschen Soldaten sich in sie verliebt und darum ihre Familie die gesamte Besatzungszeit lang beschützt habe.
Einhundertsechsundsiebzig
Lidija Krylowa und ihre Schwester Marija bleiben nach dem Massaker in Alexandrowka. Die Nationalsozialisten setzen ihre Massenmorde an Rom·nja im gesamten Besatzungsgebiet fort. Aber davon erfährt Lidija erst Jahre später. Nach Alexandrowka kommen die Mordkommandos zum Glück nicht noch einmal.
Beim Abzug aus dem Bezirk Smolensk im September 1943 ermorden die Deutschen noch einmal zwei Romani Familien in der nahegelegenen Ortschaft Raj (dt: Paradies).
Die endgültige Befreiung durch die Rote Armee erfolgt am 25. September 1943.
Schon bald darauf nimmt in der Sowjetunion die Außerordentliche Staatliche Kommission (ASK) ihre Ermittlungsarbeit auf. Sie soll die Verbrechen der deutschen Okkupanten und ihrer Helfer während der Besatzung feststellen und untersuchen. Überlebende Roma von Alexandrowka machen diese Kommission in einem schriftlichen Antrag auf den Massenmord im April 1942 aufmerksam. Zu den neun Unterzeichnenden des Antrags gehört auch Lidija Krylowa.
Überlebende Roma von Alexandrowka machen diese Kommission in einem schriftlichen Antrag auf den Massenmord im April 1942 aufmerksam.
Lidija wird die wichtigste Zeugin der Kommission, da sie als einzige Überlebende den gesamten Ablauf des Massakers bis zur Erschießungsgrube gesehen hat. Ein Detail allerdings hat sie dabei besonders irritiert: „Ich habe selbst gesehen, dass in der Scheune, die sich unweit von der Grube befand, an der die Zigeunererschießung stattfand, ein Buffet mit Imbiss und Alkohol organisiert war, an welchem sich die Offiziere, welche die Erschießung der Bürger leiteten, bedienten.“
Die Gesamtzahl der Opfer schätzt Lidija Krylowa in ihrer Aussage auf 170 bis 180 Personen. Die Exhumierung von 176 Leichen durch die ASK bestätigt diese Schätzung. Unter den Opfern befinden sich mehrheitlich Frauen und Kinder. In ihrem späteren Abschlussbericht zur Oblast Smolensk merkt die Kommission an, dass die deutschen Besatzer an zwei Bevölkerungsgruppen „besondere rassische Gräueltaten“ verübt hätten: „Juden und Zigeuner wurden vollständig und überall vernichtet.“
„Juden und Zigeuner wurden vollständig und überall vernichtet.“
In den folgenden Monaten kehren Romani Fronturlauber und demobilisierte Rotarmisten nach Alexandrowka zurück. Doch für viele von ihnen gibt es das langersehnte Wiedersehen mit ihren Familien nicht: Fassungslos erfahren sie von russischen Nachbarn und überlebenden Roma vom Massaker im April 1942. Ein russischer Militärpilot, der mit einer Romni verheiratet ist, gräbt in seiner Verzweiflung im Massengrab nach seiner Frau und den Kindern.
Nach und nach kehren auch die evakuierten Familien zurück und bringen wieder Leben in die Kolchose „Stalinverfassung“. Ihr offizieller Status als „nationale Zigeunerkolchose“ geht 1950 aber verloren. Alexandrowka wird mit den umliegenden Gemeinden und landwirtschaftlichen Betrieben zu einer Großkolchose vereint. Roma stellen fortan nur noch einen Bruchteil der Gesamtmitglieder.
Das Massaker in Alexandrowka ist kein Einzelfall. Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion ist von Anfang an als Vernichtungskrieg angelegt. Die NS-Besatzer ermorden Roma in mehreren Orten der okkupierten Sowjetunion.
Allein in der Oblast Smolensk sind mindestens 20 Massenerschießungen dokumentiert, die hauptsächlich von Einsatz- und Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des SD durchgeführt werden.
Eines der größten Massaker an Romn·ja findet auf der Krym statt. Im Dezember 1941 lockt die Einsatzgruppe D mehr als 800 Roma per Aufruf zur „Umsiedlung“ aus der Stadt und erschießt sie.
Der Völkermord an den Roma fällt zeitlich mit der zweiten und finalen Welle der Judenvernichtung zusammen. In mehreren Fällen kombinieren die deutschen Besatzer die Vernichtungsaktionen, so zum Beispiel im Raum Brjansk, wo die Kommandos der Einsatzgruppe B ab Februar 1942 mehrere Massaker an Juden und Roma verüben und die Leichen in gemeinsamen Massengräbern verscharren.
Wie viele sowjetische Rom·nja der deutschen Besatzung zum Opfer fallen, lässt sich bislang nicht abschließend sagen. Der Forschungsstand zu einzelnen Gebieten ist sehr unterschiedlich. Schätzungen reichen bis zu 30.000 Opfern.
„Vögel brauchen Himmel“
Jahrzehnte später, in einem Moskauer Theater: Auf der Bühne steht der alte Koltun, einst Buchhalter in einer Kolchose. An ihn heran tritt ein junger Mann, schlicht „Mensch vom Theater“ genannt. Er fragt den Alten über die Zeit des Krieges und die deutsche Besatzung. Koltun antwortet abweisend: „Ich habe niemanden getötet, und an der Erschießung war ich nicht beteiligt. Wozu sind Sie zu mir gekommen?“
Doch ergänzt Koltun nach kurzem Nachdenken: „Was für ein Schicksal! Was für ein Schicksal! Zu mir kamen zwei deutsche Offiziere. Sie befahlen mir, sofort eine Liste aller Zigeuner zu erstellen. Woher wusste ich, woher wusste ich, wofür? Am Morgen wurden sie alle erschossen. Das ist alles. Schicksal… Schicksal…“
Es entspinnt sich ein Streitgespräch:
– Aber warum haben Sie denn die Zigeuner nicht gewarnt?
– In dieser Nacht bin ich geflohen. Um meinen Kopf zu retten. Ich hatte Angst.
– Sie sind einer. Ab dort waren hundertachtzig – Frauen, Kinder.
– Was wollen Sie von mir? Die Sowjetmacht hat allen die alten Sünden vergeben und vergessen.
– Ja, vergeben vielleicht, aber vergessen?“
Diese Szene stammt aus dem Theaterstück „Vögel brauchen Himmel“ (Original: Pticam nushno nebo). Es wird 1985 im staatlichen Moskauer Theater Romėn uraufgeführt. Mit dem Stück erinnern Autor Iwan Rom-Lebedew und Regisseur Nikolaj Slitschenko an den nationalsozialistischen Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Ereignisse vom April 1942 in einer „nationalen Zigeunerkolchose“ im Raum Smolensk. Das Massaker von Alexandrowka wird frei und doch erkennbar wiedergegeben. Dramatischer Höhepunkt ist die Erschießungsszene, bei der die Kolchosemitglieder zu einer ineinander verkeilten Figurenfreske erstarren.
Drei Jahre zuvor, 1982, ist dort in Alexandrowka ein Denkmal errichtet worden. Überlebende Roma, darunter wieder Lidija und Marija Krylowa, haben das mit Unterstützung jenes Theaters Romėn initiiert. Doch die sowjetischen Behörden genehmigten nur eine vage Inschrift:
„Hier liegen 176 friedliche Einwohner von Aleksandrowka begraben, die am 24. April 1942 von den deutsch-faschistischen Eindringlingen erschossen wurden.“
Weder die Namen der Opfer, noch ihre ethnische Identität werden genannt.
Unter den Rom·nja in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nimmt das Gedenken an das Massaker von Alexandrowka aber bis heute einen zentralen Platz ein. Denn über Ablauf und Ausmaß liegen in diesem seltenen Fall detaillierte Informationen vor. Zu verdanken sind sie vornehmlich jener russischen Romni, die der Massenerschießung im letzten Moment durch Zufall entkam: Lidija Krylowa.
Lidija Krylowa stirbt 1998. Wo genau, ist bislang nicht überliefert.
Contributors
- Drehbuch und Text: Martin Holler und Peggy Lohse
- Illustrationen: Anna Che
- Animationen: Victoria Spiryagina und Philipp Yarin
- Redaktion: Leonid A. Klimov
- Karten: Artyom Schtschennikow
- Design: village one
- Veröffentlicht: 1. November 2024