DerKriegUndSeineOpfer

Achte Folge: Vom Wert des Lebens

Ein Projekt von
01

Swetlana Neiswestnaja

Wenn man ihr Fragen stellt, gibt sie keine Antwort. Sagt nicht mal ihren Namen. Und wenn sie doch eine Antwort gibt, versteht man sie nicht. Später steht in ihrer Krankenakte: „Beantwortet Fragen auf inadäquate Weise, lacht, gebärdet sich ungestüm, flucht und schimpft zynisch.“ Nach vergeblichen Versuchen, persönliche Daten von ihr zu erfahren, wird sie als Swetlana Neiswestnaja (dt. Swetlana Unbekannt) aufgenommen.

„Beantwortet Fragen auf inadäquate Weise, lacht, gebärdet sich ungestüm, flucht und schimpft zynisch“

Ein Polizist brachte sie in die Klinik, nachdem er sie während eines Bombenangriffs auf Poltawa auf der Straße aufgesammelt hatte. Es ist der 31. August 1941, als die Deutschen noch nicht in der Stadt sind, aber schon mit Bomben nach ihr werfen.

Noch vor Kurzem, vor dem Krieg, ist Poltawa mit seinen über 130.000 Bewohner·innen ein wichtiges und, wie es im Lexikon stehen würde, sich dynamisch entwickelndes Zentrum für Verwaltung, Industrie, Kultur und Bildung gewesen. Und für Medizin. 

Am Stadtrand steht eine der größten Kliniken der Sowjetunion für Menschen mit psychischen Erkrankungen: das Psychiatrische Krankenhaus der Oblast Poltawa. Es ist fast 150 Jahre alt, wurde 1803 gegründet. Dazu gehört ein großer Landwirtschaftsbetrieb mit knapp 500 Hektar, wo Kartoffeln, Karotten, Rüben und Kraut angebaut werden. Etliche der über 1250 Patient·innen haben hier ihre Beschäftigungstherapie. Und im Kulturklub werden den Patient·innen und dem Personal Kinofilme gezeigt.

Am Stadtrand steht eine der größten Kliniken der Sowjetunion für Menschen mit psychischen Erkrankungen

In dieses Krankenhaus kommt Swetlana, die Unbekannte.

Ihr echter Name ist Marija Bondarenko. Als sich ihr Zustand bessert, erzählt sie, dass sie 1923 in der Oblast Kirowohrad geboren und schon einmal als Zehnjährige in diese psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. 

Zu Kriegsbeginn ist sie etwa 18 Jahre alt. Diagnose Schizophrenie. 

Gut zwei Wochen später ist Poltawa von den Deutschen besetzt.

Als Nazi-Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angreift, kann sich kaum jemand vorstellen, wie schnell und weit die Wehrmacht auf sowjetisches Territorium vordringen würde.

Frühere Folgen unserer Doku-Serie handeln schon von der Kesselschlacht bei Białystok und Minsk, bei der über 300.000 Soldaten der Roten Armee in Kriegsgefangenschaft gerieten. 

Karte aus der fünften Folge: Blockiert

Und von den raschen Fortschritten der Deutschen im Norden, wo sie schon Anfang September 1941 Leningrad belagerten.

Kartre aus der zweiten Folge: Gefangen im Krieg

Auch vom Vordringen der Heeresgruppe Süd in der Ukraine – nach Kyjiw und Dnipropetrowsk.

In der Ukraine ist der Fluss Dnipro wohl das größte natürliche Hindernis für die Wehrmacht.

Karte aus der vierten Folge: Unter Zwang

Am 8. September erobert die Wehrmacht Krementschuk, eine Stadt am rechten Dnipro-Ufer. Von dort aus nähert sie sich Poltawa.

In nur zehn Tagen wird Poltawa von Einheiten der 17. Armee der Wehrmacht eingenommen – derselben Armee, die keine zwei Monate zuvor schon Bar in der Oblast Winnyzja besetzt haben.

Für das größere Poltawa, das auch schon bombardiert war, brechen nun andere Zeiten an.

02

Die neue Chefärztin

Der Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion verändert die Organisationsstrukturen des Krankenhauses, noch bevor die Stadt in die Besatzung gerät. Erstens wird hier ein Lazarett für verwundete Soldaten der Roten Armee eingerichtet. Zweitens wird Anna Dowgal Chefärztin.

Ihr Name ist neu hier. Erst 1940 hat sie ihr Medizinstudium in Winnyzja abgeschlossen. Anna Dowgal war 1895 in einer Bauernfamilie geboren worden, lange vor der Revolution. Trotz ihrer Herkunft schafft sie das Gymnasium und danach eine Ausbildung zur Buchhalterin. Sie arbeitete als Lehrerin, entschloss sich dann noch zu einem Medizinstudium.

Viele Männer werden zur Roten Armee einberufen, darunter auch der bisherige Chefarzt des Krankenhauses von Poltawa

Im Krankenhaus von Poltawa arbeitet sie zum ersten Mal als Psychiaterin. Und wird überraschend befördert: Als Folge des Kriegausbruchs werden 1941 viele Männer zur Roten Armee einberufen, darunter auch der bisherige Chefarzt des Krankenhauses von Poltawa. An seine Stelle tritt nun die 45-jährige Dowgal.    

Indes überschlagen sich die Ereignisse. Die Front rückt mit jedem Tag weiter vor, und das Lazarett wird weiter in den Osten verlegt – nach Charkiw. Patienten mit leichten Erkrankungen werden von Verwandten abgeholt, doch die meisten bleiben in der Klinik. Gleichzeitig werden viele Ärzte eingezogen und fehlen dann im Krankenhaus.

Die Deutschen suchen Standorte für Militärspitäler und Versorgungsquellen

Nach der Besetzung von Poltawa werden in der Stadt deutsche Kommandanturen, Stabsquartiere und allerlei Hilfsstrukturen der Wehrmacht eingerichtet. Die Deutschen suchen Standorte für Militärspitäler und Versorgungsquellen. Auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik bauen sie zwar keine neuen Objekte auf, doch die weitläufigen Felder, von denen die über 1000 Patient·innen ernährt werden, ziehen bald ihre Aufmerksamkeit auf sich.

03

Der neue Kommandeur des Sonderkommandos

Bald beschlagnahmen die Besatzer die Felder und Lebensmittelvorräte des Krankenhauses. Die Patient·innen werden schwach, schon im Oktober sterben die ersten an Unterernährung. „Hunger ist der Feind der Genesung“, sagt Anna Dowgal.

Der Erfolg vieler Therapien hängt eng mit dem Kaloriengehalt der Nahrung zusammen

Die Behandlung wirkt nicht mehr: Der Erfolg vieler Therapien hängt eng mit dem Kaloriengehalt der Nahrung zusammen. Wieder werden weniger schwer Kranke entlassen, um die Lage der Verbleibenden zu bessern. Der Leiter der Abteilung für Gynäkologie und Pädiatrie, Alexander Kassjanenko, entlässt am 6. Oktober auch die „unbekannte Swetlana“ Marija Bondarenko mit der Begründung, sie sei „eine brave, ruhige Patientin“.

Kurz zuvor ist Fritz Braune in Poltawa angekommen – der neue Kommandeur des Sonderkommandos 4b.

Nach der Wehrmacht verteilen sich vier Einsatzgruppen der deutschen Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes der SS in der deutschen Besatzung auf sowjetischem Territorium.

Ihre Hauptaufgabe ist es, ideologische Gegner der Besatzungsmacht ausfindig zu machen und zu ermorden.

Auf dem Gebiet der Ukraine sind die Einsatzgruppen C und D am Werk. Von den Verbrechen des Einsatzkommandos 5 und Sonderkommandos 4a berichten wir in der ersten Folge unserer Doku-Serie.

Das Sonderkommando 4b gehört ebenfalls zur Einsatzgruppe C. Es wurde im Mai 1941 in Pretzsch (Elbe) bei Wittenberg in einer Schule der Grenzpolizei gegründet und hatte zu verschiedenen Zeiten zwischen 110 und 120 Mitglieder – meist Bedienstete der Gestapo, der Kriminalpolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS. Der erste Chef des Sonderkommandos 4b war Günther Herrmann.

Bereits am 30. Juni 1941 erreichte das Sonderkommando 4b Lwiw.

Es folgte den deutschen Truppen auf dem Vormarsch über Ternopil, Proskuriw, Winnyzja, Uman, Kirowohrad (heute Kropywnyzky), Krementschuk – mit dem Ziel, Komunist·innen, sowjetische Widerstandskämpfer·innen, Juden und Jüdinnen aufzuspüren. Und zu vernichten.

Ende September 1941 wird das Sonderkommando 4b nach Poltawa verlegt.

Schon in den letzten Septembertagen ermordet es hier rund 2000 jüdische Menschen.

Am 1. Oktober muss Sonderkommando-Chef Herrmann zurück nach Berlin, wo er die Ausbildung der Kriminal- und Sicherheitspolizei übernimmt.

An seine Stelle in Poltawa rückt Fritz Braune, ein Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes

Fritz Braune ist ein junger, überzeugter Nationalsozialist. Als er die Führung des Sonderkommandos übernimmt, ist er gerade dreißig Jahre alt. Der Sohn eines Beamten in Thüringen hatte dort die Volksschule besucht und bei einer Steuerberatung Kaufmannsgehilfe gelernt. Danach versuchte er sich als Unternehmer. 1931 trat er, wie so viele junge Leute, der NSDAP bei. Braunes älterer Bruder Werner war in der Zentrale des Sicherheitsdienstes in Berlin angestellt und besorgte Fritz 1936 einen Posten im SD in Stuttgart, den er bis zu Kriegsbeginn beibehielt.

Nach kurzer Station in Berlin steigt Fritz Braune in den Zug nach Kyjiw

Nach kurzer Station in Berlin steigt er in den Zug nach Kyjiw, wo er auf seine neue Arbeit für den SS-Sicherheitsdienst (SD) in den besetzten Gebieten vorbereitet wird: Er bekommt Instruktionen bezüglich seiner neuen Aufgaben und Pflichten und Unterweisung in den Befehlen des Sonderkommandos.

Außerdem berichtet man ihm, dass in Kyjiw die Patient·innen einer psychiatrisch-neurologischen Klinik erschossen wurden: Sollten im Verantwortungsbereich seines Kommandos ähnliche Einrichtungen entdeckt werden, so sei analog zu verfahren. In den Plänen der Besatzungsmacht sei die Ernährung von „Menschen dieser Kategorie“ nicht vorgesehen, erklärt man Braune.               

Hintergrund ist: Erstens, die Versorgung der Wehrmacht hat Priorität. Zweitens – rassenideologische Überzeugungen.

Der Jurist und Strafrecht-Professor Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche hatten 1920 in Leipzig eine Broschüre unter dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ veröffentlicht. Ihre zentrale Aussage: Euthanasie sei für bestimmte Patientengruppen „zielführend“. Menschen mit mentalen Störungen und Behinderungen bezeichnen die Autoren als wirtschaftliche Belastung für die Gesellschaft und „genetisch gefährlich“. Gegen die Vernichtung dieser „unheilbar Blödsinnigen“, „leeren Menschenhülsen“ und „Ballastexistenzen“ gebe es keinen juristischen, sozialen, moralischen oder religiösen Einwand.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs beschloss die Führung des Dritten Reiches, „nutzlose Esser“ in Massen zu ermorden

Die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ wappnete sich eifrig mit solchen Ideen: Direkt mit Beginn des Zweiten Weltkriegs beschloss die Führung des Dritten Reiches, „nutzlose Esser“ in Massen zu ermorden.

Am 1. Oktober 1941 trifft Fritz Braune in Poltawa ein. Kurze Zeit später meldet sein Sonderkommando 4b an die Zentrale in Berlin, dass sich „in Poltawa eine 865 Insassen umfassende Irrenanstalt“ befinde, der ein „großer landwirtschaftlicher Betrieb angegliedert“ sei. Der Bericht betont die „außerordentlich kritische Ernährungslage der Stadt Poltawa – für die drei großen Kriegslazarette steht beispielsweise keine Vollmilch zur Verfügung“.

Unterdessen bringt die deutsche Kommandantur Marija Bondarenko – die „unbekannte Swetlana“ – kaum zwei Wochen nach ihrer Entlassung wieder ins Krankenhaus zurück. Sie droht dort damit, alle Fenster einzuschlagen, wenn man sie nicht wieder zu den Deutschen lasse, die sie „gut füttern und schöne Kleider versprechen“.

04

Nutzlose Listen

Ende Oktober 1941. Kriegsgefangene Rotarmisten werden an den Rand des Hryschkiw-Waldes südwestlich der Klinik getrieben, wo sie einen eineinhalb Meter tiefen T-förmigen Graben ausheben müssen.

Weiß sie, was die Deutschen tatsächlich vorhaben?

Indes hat Chefärztin Dowgal bereits eine Liste mit Patient·innen „zur Verlegung nach Charkow“ erstellt. Weiß sie, was die Deutschen tatsächlich vorhaben? Dowgal behauptet später, sie habe es nicht gewusst. Im Bericht des Sonderkommandos steht jedoch, dass sie im Gespräch mit Fritz Braune „der Lösung dieses Problems in dem vorgeschlagenen Sinne volles Verständnis“ entgegengebracht habe. Auf ihren Einwand hin, „dass eine derartige Maßnahme in der Bevölkerung eine nicht zu unterschätzende Unruhe hervorzurufen imstande wäre“, habe man die Aktion als Überführung nach Charkiw getarnt. Als ob man solchen Berichten trauen könnte.

Woran mag sich Dowgal gehalten haben, als sie die Listen erstellte? Vielleicht an die Angst, dass im Fall von Ungehorsam nicht nur die Patient·innen, sondern auch sie selbst und ihre Kolleg·innen getötet würden? Oder, wenn sie doch von den Plänen der Besatzer gewusst hatte, vielleicht an die Einsicht, ohnehin nicht alle retten zu können – aber an die Hoffnung, wenigstens einzelne zu schützen? Oder stellt sie sich den schnellen Tod durch eine Kugel weniger qualvoll vor als das langsame Verhungern, das sie schon die ganze Zeit mitansieht?

Woran mag sich Dowgal gehalten haben, als sie die Listen erstellte?

Am frühen Morgen des 30. Oktober fährt das Sonderkommando vor der Klinik vor. Das Klinikpersonal führt die Patient·innen aus dem Gebäude heraus, manche müssen getragen werden. Auch Kinder sind darunter. Die meisten tragen eigene Kleidung. Nur wer keine hat, geht in Krankenhaushemden.

Manche der Patient·innen sind gut gelaunt: zuversichtlich, dass sie in Charkiw sicher besser ernährt würden. Die Nervösen werden mit Scopolamin-Spritzen beruhigt, die Schwachen mit Kampfer und Koffein aufgeputscht. Denn die Besatzer wollen, dass alle selber gehen können.

Die Listen, die Anna Dowgal erstellt hat, interessieren die Deutschen letztlich gar nicht: Sie nehmen einfach alle mit.

05

Hryschkiw-Wald

Die Transportmittel des Sonderkommandos reichen nicht aus: Andere deutsche Strukturen in Poltawa stellen ihre Fahrzeuge zur Verfügung. Fast die gesamte Belegschaft des Sonderkommandos ist im Einsatz.

Der Herbstregen schwemmt die Straßen auf und erschwert den Verkehr.

Das Psychiatrische Krankenhaus befindet sich am nördlichen Stadtrand von Poltawa.

Ziel der Transporte ist der Hryschkiw-Wald: Das ist nicht weit und die Fahrer hatten sich im Vorfeld mit der Strecke vertraut gemacht, damit alles schnell ging.

Die Fahrzeuge parken rund vierzig Meter von der Grube entfernt.

Rund um die Hinrichtungsstätte stehen Mitglieder des Sonderkommandos 4b und kontrollieren, dass keiner flüchtet und keine Unbeteiligten hinzustoßen.

Sie müssen sich auf den Boden legen. Dicht an dicht, Gesicht nach unten

Die Patient·innen steigen aus oder werden aus den Lastwagen gezerrt. Dann treibt man sie zur Grube. Wer nicht selbständig gehen kann, wird von anderen Patienten getragen. Sie müssen sich auf den Boden legen. Dicht an dicht, Gesicht nach unten.

Die Gewehre sind auf Einzelfeuer gestellt. Schuss. Einer, der nächste, der dritte … Wer nicht sofort stirbt, wird nachträglich erschlagen.

Dann ist die nächste Gruppe dran. Sie liegen schon nicht mehr auf dem Boden, sondern auf den getöteten Mitpatient·innen.

Gegen Mittag ist die Erschießung abgeschlossen, das Grab wird zugeschaufelt.

Das Sonderkommando 4b meldet in seinem Bericht, dass 740 Personen erschossen wurden

Am 8. Dezember 1941 meldet das Sonderkommando 4b in seinem Bericht, dass 740 Personen erschossen wurden:

„3 politische Funktionäre
1 Saboteur
137 Juden
599 Geisteskranke
Auch diese Aktion konnte entsprechend den getroffenen Vorbereitungen völlig reibungslos durchgeführt werden“

Der landwirtschaftliche Betrieb der „Irrenanstalt“ werde nun, so der Bericht weiter, „den dortigen Kriegslazaretten zur Verfügung“ gestellt, ebenso „Wäsche, Kleidung und sonstige Gebrauchsgegenstände“. „Die 200 verbleibenden heilbaren Anstaltsinsassen werden im landwirtschaftlichen Betrieb beschäftigt.“

Eine von ihnen ist Swetlana Neiswestnaja: Marija Bondarenko bleibt und muss Zwangsarbeit leisten.

Das Sonderkommando 4b dagegen zieht weiter, denn sein Auftrag hier in Poltawa ist „erfüllt“.

06

Neuer „Transport“

Fritz Braune wollte die nach der Erschießung verbliebenen Patient·innen eigentlich entlassen, die Gebäude und sonstiges Eigentum der Klinik an die Stadtverwaltung und die Ländereien dem Militär übergeben.

Ein Teil geht auch tatsächlich an die Wehrmacht. Den Klub beispielsweise benutzt das deutsche Militär nun als Pferdestall.

Doch die Klinik wird nicht nur nicht geschlossen, sondern nimmt sogar neue Patienten auf. Etwa ein halbes Jahr später, im Juli 1942, erhalten die Mitarbeiter·innen erneut einen Listen-Befehl von den Deutschen: alle Namen der stationären Patienten·innen mit Diagnose und Krankheitsdauer.

Die Ärzte geben sich keinen Illusionen hin: Sie wissen, worauf die Deutschen hinauswollen

Die Ärzte geben sich keinen Illusionen hin: Sie wissen, worauf die Deutschen hinauswollen. Manche der Patienten·innen werden darum einfach entlassen, anderen stellt man neue, weniger schwerwiegende Diagnosen. Das Zepter führt wieder Chefärztin Anna Dowgal: Sie gibt die Befehle der Besatzer an die Ärztinnen und Ärzte weiter. Gleichzeitig hindert sie sie nicht daran, so viele Patienten·innen wie möglich zu entlassen. Eine schickt sie gar selbst fort.

Die anderen Patienten·innen werden weiter zur Arbeit geschickt, unter anderem auf den von den Deutschen konfiszierten Feldern. Die Beziehungen innerhalb des Krankenhauspersonals sind zerrüttet, und jede·r trifft eigene Entscheidungen. Manche riskieren den Zorn der Deutschen, manche nicht.

Manche riskieren den Zorn der Deutschen, manche nicht

Doch da versammeln sich eines Morgens Anfang August unerwartet Angehörige der verbliebenen Patienten·innen vor der Klinik. Gegen 14 Uhr folgen schwarze Lastwagen. Eine Frau will in das Gebäude eindringen und ihre Tochter (Diagnose: Epilepsie) abholen. Doch sie wird weggeschubst – der Eingang von Soldaten mit Pistolen und Maschinengewehren abgeriegelt. Patienten·innen werden aus den Gebäuden geführt, ans Militär übergeben, in die Lastwagen gestoßen. Die Angehörigen versuchen, ihre Verwandten zu retten. Sie weinen und schreien. Die Deutschen schimpfen und schlagen, schlagen, schlagen. Nicht einmal der in der Klinik beschäftigte Feldscher schafft es, seinen Bruder (Diagnose: auch Epilepsie) vor dem neuen „Transport“ zu bewahren.

169 Patienten·innen (anderen Daten zufolge 135) werden diesmal vom Krankenhaus in einen Wald bei Poltawa-Süd gebracht. Der genaue Ort ist unbekannt, womöglich war es das Waldstück Tryby, wo bereits in den 1930er Jahren zahllose Opfer der stalinistischen Repressionen vergraben wurden.

Diesmal sind auch lokale Hilfspolizisten aus der örtlichen Bevölkerung an der Absperrung des Geländes für die Erschießung beteiligt.

07

Der Gemüsekeller

Im Osten der Ukraine herrscht im Februar 1943 nach der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad Panik. Aus vielen Städten und Dörfern ziehen sich deutsche Einheiten zurück, die Kollaborateure der lokalen Polizaji flüchten – ebenso Mitarbeitende ziviler Institutionen, die eine Verfolgung durch die sowjetischen Behörden fürchten.

Eine von ihnen ist Anna Dowgal.

Ende Februar und in den ersten Märzwochen führen die Deutschen ein paar Gegenangriffe durch, und die Rote Armee weicht von ihren neuesten Positionen zurück. Für eine Weile ist die Frontlinie stabil. Viele der im Februar Geflüchteten kehren zurück. Auch Dowgal.

Auf ihrem Rückzug zünden die Besatzer das Psychiatrische Krankenhaus von allen Seiten an

Doch im Spätsommer 1943 nähert sich die Gegenoffensive der Roten Armee Poltawa. Am 20. September zünden die Besatzer auf ihrem Rückzug das Psychiatrische Krankenhaus von allen Seiten an.

Die Ärzt·innen lassen die Patienten·innen laufen. Doch einige von ihnen treiben die Deutschen in den Keller des Gemüselagers. Schüsse knallen. Dutzende Menschen werden den Gemüsekeller nie mehr verlassen.

Dutzende Menschen werden den Gemüsekeller nie mehr verlassen

Indessen greift der Brand von einem Korpus auf den nächsten über. Erst nach zwei Tagen, als die Deutschen weg sind, öffnet das Klinikpersonal die Türen der ausgebrannten Gebäude. Zwischen den Toten finden sie einen überlebenden Patienten – er heißt Nestor. Von den wenigen, die letztlich die Erschießungen und den Brand überstanden hatten, kehren manche in die Klinik zurück, manche nicht.

Anna Dowgal gehört da nicht mehr zu den Ärzt·innen der Klinik, sie arbeitet seit ihrer Rückkehr nach Poltawa als Leiterin einer Kinderkrippe.

Aber unter den Überlebenden ist auch Swetlana Neiswestnaja alias Marija Bondarenko – sie überlebt alle drei von den Deutschen verübte Massenmorde und verlässt nach deren Abzug Poltawa.

Am 23. September 1943 ist Poltawa von der deutschen Besatzung befreit. Die Außerordentliche Staatliche Kommission sucht nach Tatorten der nationalsozialistischen Verbrechen. Am 5. November wird die Stelle entdeckt, wo die erste Erschießung von Patienten·innen der psychiatrischen Klinik stattfand.

08

Juristische Urteile

Marija Bondarenko hat indes am 15. Oktober 1943 versucht, bei Krementschuk ans rechte Dnipro-Ufer zu gelangen, das noch von Deutschland besetzt war. „Ich habe hier nichts verloren, die Sowjetmacht kümmert sich schlecht um mich, ich bin unzufrieden damit“, sagt sie dann in einem sowjetischen Verhör. Dabei findet man auch ein deutsches Flugblatt bei ihr. 

„Ich habe hier nichts verloren, die Sowjetmacht kümmert sich schlecht um mich“

Nach dreieinhalb Monaten Ermittlungen wegen Verdachts auf antisowjetische Tätigkeit und Staatsverrat wird die „unbekannte Swetlana“ Ende Januar 1944 wieder ins Psychiatrische Krankenhaus Poltawa eingewiesen. Mehr ist über ihr Schicksal nicht bekannt.  

Anna Dowgal dagegen wird noch am 14. Mai 1945 verhaftet und später zu 15 Jahren Zwangsarbeit und Konfiskation ihres Eigentums verurteilt. 1993 wird sie mangels Beweisen für ihre Schuld rehabilitiert. 

Anna Dowgal wird verhaftet und später zu 15 Jahren Zwangsarbeit und Konfiskation ihres Eigentums verurteilt

In der Sowjetunion wurden neben Dowgal auch Nikolai Falko, der Leiter des Gesundheitsamtes der Stadtverwaltung von Poltawa (zehn Jahre Lagerhaft mit Konfiskation des Eigentums), und Alexander Kossjanenko, der Abteilungsleiter im Krankenhaus (der Bondarenko kurz nach der deutschen Besetzung aus der Klinik entließ), sowie der Feldscher Gawrijil Jakowlew, der seinen Bruder nicht retten konnte, verurteilt. Alle drei wurden später rehabilitiert.

Fritz Braune lebt derweil nach dem Krieg in der BRD und arbeitet als Manager einer Schrauben-Firma. Im Februar 1963 wird er erstmals wegen Verdachts auf in der Ukraine begangene Verbrechen verhaftet, aber bald wieder freigelassen. Noch zweimal wird er kurz gefasst, bevor ihn am 12. Januar 1973 das Landgericht Düsseldorf für die Beihilfe zur Ermordung von mindestens 1133 Menschen, darunter Patienten·innen der psychiatrischen Klinik in Poltawa, zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Fritz Braune wird für die Beihilfe zur Ermordung von mindestens 1133 Menschen zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt    

Das Gericht betonte Braunes Rolle bei der Vorbereitung und Organisation der Erschießung von Zivilist·innen sowie die Tatsache, dass er vom nationalsozialistischen Regime profitierte. Andererseits wurde eingeräumt, dass Braune mit seinem Schuldeingeständnis einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung der Umstände der Verbrechen leiste und nicht alle Patienten·innen der Psychiatrie von Poltawa erschossen habe. Ob Braune selbst an der Erschießung teilgenommen hat, konnte das Gericht nicht feststellen.

Während des Gerichtsverfahrens von 1970 bis 1973 wurden drei weitere Mitglieder des Sonderkommandos 4b, die an der Ermordung von Patienten·innen der Klinik in Poltawa beteiligt gewesen waren, zu unterschiedlichen Haftstrafen verurteilt. 

Während der deutschen Besatzung wurde das Archiv der psychiatrischen Klinik Poltawa mit Krankengeschichten aus 58 Jahren vernichtet. Es ist unmöglich, die Namen der Patienten·innen und der Opfer der Massenmorde wiederherzustellen. Swetlana, die Unbekannte, ist die einzige Patientin, über die vereinzelte Informationen bekannt sind.

Während der deutschen Besatzung wurden auf sowjetischem Gebiet mindestens 28.000 bis 30.000 Patienten·innen psychiatrischer Kliniken und Krankenhausabteilungen ermordet. 

Contributors

  1. Text und Drehbuch: Dmytro Tytarenko und Dmitry Kartsev
  2. Illustrationen: Anna Che
  3. Animationen: VICTORIA SPIRYAGINA
  4. Redaktion: LEONID A. KLIMOV und Peggy Lohse
  5. Übersetzung ins Deutsche: Ruth Althenhofer
  6. Übersetzung der Zitate: Friederike Meltendorf
  7. Karten: ARTYOM SCHTSCHENNIKOW
  8. Design: VILLAGE ONE
  9. Veröffentlicht: 16. Januar 2025

Neunte Folge
Ortschaften in Brand
Coming Soon

„Der Krieg und seine Opfer“ ist ein Projekt von dekoder, in Kooperation mit der Universität Heidelberg.

Universität Heidelberg

Ein Projekt der Bildungsagenda NS-Unrecht

Gefördert durch

auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages