DerKriegUndSeineOpfer
Vierte Folge: Unter Zwang
Nanotschka
Auf dem Schreibtisch steht ein großer Globus. Nanotschka und ihr Vater reisen damit gemeinsam in Gedanken um die ganze Welt, segeln über Meere und baden in den Flüssen verschiedener Kontinente.
Nanotschka heißt eigentlich Nadija, aber ihre Eltern nennen sie liebevoll Nanotschka oder einfach Nana. Sie wurde am 23. September 1930 in der sowjetischen Ukraine geboren, in der Industriemetropole Dnipropetrowsk am kilometerbreiten Fluss Dnipro.
Ihr Vater Iwan Leontjewitsch Viktorowski bekleidet als Agronom eine wichtige Position in der Gebietsverwaltung von Dnipropetrowsk. Ihre Mutter Paraskowija Arsentjewna arbeitet als Grundschullehrerin und studiert an einer Abendhochschule – in der Sowjetunion konnte man so berufsbegleitend Abschlüsse erhalten.
Geschwister hat Nanotschka keine, aber das Mädchen Motja, das Vater Iwan während des Holodomor aus einem Dorf aufgenommen hat, ist für Nanotschka wie eine große Schwester. Regelmäßig kommt außerdem die Haushälterin Ulja zu ihnen.
Nanotschka genießt es, wenn ihr Vater, der häufig dienstlich durch die Dörfer der Region reist, ihr viel Zeit von seiner wenigen Freizeit widmet. Die erwachsene Nadija wird sich später an die frühe Kindheit als eine glückliche Zeit erinnern.
Doch ihr Glück endet, noch bevor der Krieg beginnt.
1937 wird Vater Iwan befördert: Er wird ins ukrainische Volkskommissariat für Landwirtschaft berufen. Bevor er nach Kyjiw reist, in die Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik, lädt die Familie viele Freunde und Kollegen ein.
Aber mitten in die Feierlichkeiten platzen Geheimdienstler des sowjetischen NKWD.
Tochter des „Volksfeindes“
1937 wird als Jahr des Großen Terrors in die Geschichte der Sowjetunion eingehen. Allein in der Ukraine werden 265.000 Menschen verhaftet, mehr als 123.000 hingerichtet, 68.000 in Lager geschickt. Nur 658 Menschen werden befreit. Etwa ein Fünftel aller sowjetischen Verhaftungen und Erschießungen entfällt auf die Ukraine.
So kommt auch Mutter Paraskowija einige Tage nach der zerstörten Feier und der Abreise von Vater Iwan weinend nach Hause: „Nanotschka, wir haben keinen Papa mehr.“
Verhaftet am 7. Juli 1937, hat man ihn am 17. September als „aktives Mitglied der terroristischen Organisation der ‘Rechten’“ erschossen.
Aus der glücklichen Kindheit wird die Zeit als Tochter eines „Vaterlandsverräters“. Nadija und ihre Mutter werden aus ihrer Wohnung im Zentrum gejagt und zu anderen verfolgten Mitarbeitern an den Stadtrand umgesiedelt. Motja muss in ihr Heimatdorf zurückgehen.
Nach zwei Monaten, am 9. September 1937, holt eine „schwarze Krähe“ dann auch Nadija und ihre Mutter. Paraskowija wird vor dem NKWD-Gefängnis Dnipropetrowsk abgesetzt und zwei Monate später als Ehefrau eines „Volksfeindes“ zu acht Jahren Lagerhaft in Sibirien verurteilt.
Die Bolschewiki beginnen die Verfolgung von Regimegegnern und „Feinden der Arbeiterklasse“ unmittelbar nach der Oktoberrevolution. Eine Form der Repressionen waren die sogenannten Umerziehungs- und Arbeitslager.
Das erste Lager entsteht 1923 auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer. Seine Insassen − mehrheitlich Intelligenzija und Oppositionelle aus allen Teilen der Sowjetunion − müssen unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit leisten, vor allem Holz beschaffen.
Die Zahl der Gefangenen steigt von ca. 3000 im Jahr 1923 auf 71 000 im Jahr 1931. Das Lager selbst wird zum Prototypen eines ganzen Systems, das während des ersten Fünfjahresplans 1928-32 ausgebaut wird.
Auch wenn die Umerziehungslager offiziell „Klassenfeinde“ durch Arbeit zu „vollwertigen Sowjetbürgern“ machen sollten, besteht ihr Hauptziel doch in der Ausbeutung von Arbeitskräften zur Erschließung von Rohstoffen und beim Aufbau von Industrie.
Die größten Arbeitslager entstehen bei Großbaustellen wie dem Weißmeer-Ostsee-Kanal mit bis zu 107.000 Zwangsarbeiter·innen…
… oder Moskwa-Wolga-Kanal mit über 190.000 Zwangsarbeiter·innen.
Außerdem entstehen große Lagerkomplexe in klimatisch unwirtlichen Regionen in Sibirien und des Fernen Ostens, wie zum Beispiel in Magadan.
Alle Lager zusammen waren der Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager zugeordnet, kurz: GULag.
In der ganzen Sowjetunion werden insgesamt mehr als 1000 Lager gezählt, die in allen Regionen des Landes verteilt wurden, wie ein gewaltiger Archipel, wie es Alexander Solschenizyn in seinem Roman „Archipel Gulag“ genannt hat.
Der Höhepunkt des Gulags war das Jahr 1953, mit insgesamt mehr als 1,7 Millionen Häftlingen. Nach dem Tod Stalins wurde das System bis 1960 nach und nach abgebaut.
1929 entsteht das Sibirische Umerziehungs- und Arbeitslager - Siblag - mit Hauptsitzen in Nowosibirsk und Kemerowo.
Die Haupttätigkeit besteht in Holzbeschaffung- und Transport sowie Bauarbeiten.
1938 zählte das Lager mehr als 78.000 Insassen. In dieses Lager wird 1938 Nadijas Mutter geschickt.
Nadija kommt indes in ein Heim für Kinder von „Volksfeinden“ auf der Filosofska-Straße 29. Wie sie sich später erinnern wird, gibt es in einen Raum 40 andere Kinder und furchtbare graugrüne Decken auf den Betten. Die Kinder schreien und weinen und werden immer wieder geschlagen.
Zum Glück bleibt Nadija nicht lange, ihre Tante Lena adoptiert sie. Ihr Mann Marcel arbeitet in einem Großbetrieb als Leiter der Produktionsüberwachung. Er ist Pole mit einem deutschen Familiennamen – Reinhard. Leicht könnte auch er verhaftet werden. Für diesen Fall steht immer eine Tasche mit Sachen bereit.
Nadijas neue Familie tut viel für das Mädchen. Nur dank ihrer Liebe erholt sie sich langsam.
Als Deutschland die Sowjetunion überfällt, ist sie noch nicht ganz elf Jahre alt.
Nach deutscher Planung sollte der „Russlandfeldzug” ein Blitzkrieg sein − ähnlich wie 1939 der Überfall auf Polen.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion dringt die Wehrmacht zusammen mit ungarischen, italienischen, rumänischen und slowakischen Truppen tatsächlich sehr schnell und tief in das Innere des sowjetischen Territoriums ein.
Die Stoßrichtung der Heeresgruppe Süd unter Gerd von Rundstedt konzentriert sich auf die Ukraine.
Die Wehrmacht nimmt eine Stadt nach der anderen ein: Luzk, Riwne, Lwiw, Schytomyr, Bila Zerkwa, Winnyzja − und stößt weiter Richtung Kyjiw und nach Süden vor.
Die Rote Armee zieht sich zurück und muss viele Verluste hinnehmen. Eine der bittersten Niederlagen ist die auch für die deutsche Seite verlustreiche Kesselschlacht bei Uman im Sommer 1941.
Allein in dieser Schlacht verliert die Rote Armee über 100.000 Soldaten als Gefangene, Hunderte von Panzern und Geschütze.
Nach dieser Schlacht steht der Wehrmacht das Hinterland der Ukraine mit den Städten Krywyj Rih, Mykolajiw, Cherson und Dnipropetrowsk für weitere Vorstöße offen.
Im Sturzflug bis zum letzten Stuhl
Die deutschen Truppen nähern sich Dnipropetrowsk. Am 9. Juli 1941 fallen die ersten Bomben, tagelange Bombardements folgen. Die zentralen Ziele der deutschen Luftangriffe sind der Bahnhof, die Brücken über den Dnipro und das industrielle Zentrum. Ab dem 16. August fahren Züge gen Osten nur noch vom linken Dnipro-Ufer ab.
Die Frontstadt zu verlassen, ist nun ein schwieriges Unterfangen. In der Sowjetunion existiert ein strenges Kontrollsystem über Ortswechsel der Bevölkerung. Man kann nicht einfach eine Zugfahrkarte kaufen und wegfahren. Seit Kriegsbeginn sind diese Kontrollen verschärft: Ohne Erlaubnis darf man seine Arbeitsstelle nicht kündigen oder sich in einem anderen Ort anmelden. Für eigenmächtiges Verlassen der Arbeitstelle oder Zuspätkommen auf der Arbeit drohen bis zu acht Jahre Haft.
Man kann nicht einfach eine Zugfahrkarte kaufen und wegfahren.
Die Evakuierung von ziviler Bevölkerung aus dem Kriegsgebiet muss das Militärkommando oder der Rat für Evakuierung beschließen, der am zweiten Kriegstag gegründet und der sowjetischen Regierung unterstellt wurde. Diese Anordnung zur Evakuierung von Dnipropetrowsk kommt am 7. August 1941. Doch selbst jetzt braucht man zunächst eine Evakuierungsbescheinigung, um Arbeitsplatz und Stadt zu verlassen.
Dann muss man noch einen Zugplatz bekommen, denn den garantiert die Bescheinigung an sich noch nicht. Unter Lebensgefahr verbringen die Menschen Tage und Nächte auf dem Bahnhofsvorplatz und Umgebung und warten auf freie Fahrkarten nach Osten.
An einem dieser Tage sitzt auch Nadija vor dem Bahnhof. Auf einer Sperrholzkiste unter Bäumen wartet sie auf Tante Lena, die versucht, Zugfahrkarten zu ergattern. Auf einer Grünfläche in der Mitte des Platzes sammeln sich jüdische Flüchtlinge aus der Westukraine.
Der Platz ist voller Menschen, als plötzlich das Dröhnen deutscher Flugzeuge herannaht. Im Sturzflug feuern sie aus Maschinengewehren auf die Menschen. Krankenschwestern neben Nadija reißen das Mädchen zu Boden und bedecken sie mit Koffern. Tante Lena eilt herbei, greift Nadija und ihre Sachen und zusammen rennen sie unter Beschuss und an zerstörten Häusern vorbei nach Hause.
Es ist ihnen nicht gelungen, die Stadt zu verlassen.
Den Angriff auf Dnipropetrowsk führen das 3. Panzerkorps unter General Eberhard von Mackensen, die SS-Panzerdivision „Wiking“ sowie Teile eines italienischen Expeditionskorps, ungarische Pionier- und italienische Ingenieurs- und Luftwaffeneinheiten durch.
Von Seiten der Sowjetarmee stehen den Angreifern nur Teile der Reservearmee der Südfront entgegen. Diesem eilig gebildeten Truppenverband mangelt es katastrophal an Waffen.
Am 25. August, nach fast zweiwöchigem Kampf vor Dnipropetrowsk, marschieren die ersten Truppenteile der Wehrmacht in die Stadtteile am rechten Dnipro-Ufer ein. An diesem Tag bringt die Rote Armee ihre Leute und Technik an das gegenüberliegende Ufer des Flusses.
Die Verteidigungskämpfe am linken Ufer und den umliegenden Gebieten dauern noch einen weiteren Monat an.
So finden sich Nadija und Tante Lena bald unter deutscher Besatzung wieder. Die Rote Armee wird erst nach zwei langen Jahren nach Dnipropetrowsk zurückkehren.
Die Rote Armee verlässt das rechte Dnipro-Ufer. Einen Monat lang dauert nun das Artillerieduell mit den deutschen Truppen. In der Stadt herrscht Panik. Die dem Schicksal überlassenen Einwohner·innen nutzen das Chaos, um Geschäfte und Lager zu plündern. Strom gibt es nicht. Nadija muss Wasser aus einem Brunnen im Park holen, abkochen und erst dann trinken.
Hunger, Angst und Entbehrung prägen das Leben im besetzten Dnipropetrowsk. Und Morde.
Am 13. Oktober 1941 wird Nadija neben anderen Kindern Zeugin einer Szene, die sich in ihr Gedächtnis einbrennen sollte: Eine riesige Kolonne von Menschen − Erwachsene wie Kinder − mit Säcken in den Händen passiert ihr Haus in der Schmidt-Straße. Drei weinende Personen – zwei ältere Krankenschwestern und ein älterer Herr – kommen heraus und schließen sich dem Marsch an. Ihr Familienname ist Ioffe.
Unter dem Vorwand der Umsiedlung in ein Ghetto oder nach Palästina werden Jüdinnen und Juden vor dem Zentralkaufhaus in der Stadtmitte versammelt. Von da aus bringt man sie unter polizeilicher Aufsicht ins Viertel des jüdischen Friedhofs. Hier, in einer tiefen Schlucht, erschießt die Einsatzgruppe 6 innerhalb weniger Tage mehr als 10.000 Menschen.
Nach der Verteidigung der Stadt, Evakuierungen, Flucht und Erschießungen ist bis Dezember 1941 nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung in Dnipropetrowsk geblieben. Hauptaufgabe der Menschen ist nun das Überleben. Zentrum des städtischen Lebens wird der Basar Oserka. Hier tauschen Städter verschiedene Gegenstände gegen Essen von Bauern aus den umliegenden Dörfern. In zwei Jahren Besatzung verhökern Nadija und Tante Lena hier alles aus ihrer Wohnung und sogar Kleidung.
Im Herbst 1943 bekommen sie für ihren letzten Stuhl ein Stück Kürbis.
„Evakuierung“ in die Zwangsarbeit
Seit den ersten Wochen des Jahres 1942 werben die Besatzungstruppen die Bevölkerung von Dnipropetrowsk zur Arbeit in Deutschland an. Zuerst gingen die Freiwilligen – in der Stadt gab es keine Arbeit, keine Lebensgrundlage, und die deutsche Propaganda ließ nicht nach, vielversprechende Perspektiven im Reich zu zeichnen. Doch schon bis Sommer versiegen die Interessierten. Dann beginnt die Mobilisierung der arbeitsfähigen Bevölkerung durch Polizei und Gendarmerie, manchmal gar Soldaten. Sie jagen Männer und junge Frauen auf Märkten und Straßen. Je mehr Misserfolge der Wehrmacht an der Front, je näher der Rückzug der Besatzer, desto aktiver machen sie Jagd auf potentielle Arbeitskräfte.
Hitlers Führerbefehl Nr. 4 im Februar 1943 besagt, dass alle Männer zwischen 15 und 65 Jahren aus den besetzten Gebieten zu Verteidigungsarbeiten heranzuziehen und die gesamte Zivilbevölkerung als Arbeitskraft abzutransportieren sei. Der Oberkommandeur der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall Erich von Manstein, ordnet an, die Bevölkerung in Frontnähe in Kolonnen zu sammeln und ins Hinterland zu verlegen.
„Es wird nichts passieren, wir verstecken uns im Keller, da kann uns kein Teufel was anhaben“
Im September 1943 hängen die Deutschen in Dnipropetrowsk eine Mitteilung aus, dass die Zivilbevölkerung die Stadt verlassen solle. Nadijas Stadtteil soll am 23. September – ihrem Geburtstag – dran sein. Alle Menschen sollen die Stadt verlassen und in Richtung Krywyj Rih gehen.
Aber Tante Lena weigert sich, den Befehl zu befolgen. „Es wird nichts passieren, wir verstecken uns im Keller, da kann uns kein Teufel was anhaben“, sagt sie zu Nadija. Doch am Morgen des 25. September findet man sie doch alle drei – Nadija, Tante Lena und Onkel Marcel – im Keller und treibt sie aus der Stadt. Eine Kolonne von unzähligen Leuten, die sich dem Befehl widersetzt hatten, ist zusammengekommen. Es wird ein schrecklicher Weg.
Die Menschen werden gnadenlos gejagt und öffentlich für das Nichtbefolgen des Evakuierungsbefehls bestraft. Kalmückische Wächter auf Pferden treiben sie mit Peitschen und Gendarmen auf Motorrädern begleiten die Kolonne. Der kleinen Nadija erscheinen sie alle − wenn auch nicht korrekt − als „SS-Leute“. Wer versucht zu flüchten, wird zu Tode geprügelt.
Die „Evakuierung“ der Bevölkerung von Dnipropetrowsk erfolgt vor dem Hintergrund des Herannahens der Roten Armee.
Die Kolonne der „Evakuierten“ wird zu Fuß aus Dnipropetrowsk in Richtung Krywyj Rih gen Westen getrieben.
Bei Krywyj Rih laufen sie eine Straße entlang, zu deren Seiten Tote aufgehängt waren. Dort erleidet Nadija einen Panikanfall.
Sie gehen weiter zu Fuß durch die ukrainische Steppe bis zum Dnister. Insgesamt drei Monate lang.
Bei Bendery sammelt sich an einem Flussübergang eine große Menge Menschen und Vieh, außerdem deutsche Truppen und ihre Technik. Als Nadija endlich an der Reihe ist, über den Fluss zu setzen, beginnt ein Luftangriff sowjetischer Flieger. Viele sterben noch am östlichen Ufer. Nadija überlebt.
Dann wird sie auf Viehwaggons geladen und über Ungarn nach Deutschland gebracht.
Nadija ist 13 Jahre alt. Genau wird sie sich später nicht mehr an die Route erinnern können. Sie erinnert sich nur an den ersten Halt in einem der deutschen Transitlager.
Später wird Nadija von Lager zu Lager gebracht: Niemand zeigt zunächst Interesse an ihr als Arbeitskraft. In einem Transitlager muss sie zur Desinfektion in riesige Bottiche mit einem weißen Schlamm steigen. Woanders stirbt sie fast an Spritzen, die Kindern verabreicht wurden. Wie all diese Lager hießen, weiß Nadija bald nicht mehr. Ihr bleibt nur eines in vager Erinnerung : Stutthof. Familien mit Kindern kommen zur Zwangsarbeit in eine umzäunte Baracke neben dem Konzentrationslager. Die Erwachsenen treibt man zum Bahnhof, in Waggons und dann in den Wald, um dort Bäume zu fällen.
Nadija wird krank und muss in der Baracke bleiben. Ihr schmerzt der Arm - vermutlich von der Injektion, die sie bekommen hat. Jeden Morgen beobachtet sie, wie tote Menschen durch die Fenster auf kleine Wagen geworfen werden. Nach einem Monat etwa kommt eine große jüdische Gruppe in Stutthof an. Danach werden die Familien weggebracht.
Jeden Morgen beobachtet sie, wie tote Menschen durch die Fenster auf kleine Wagen geworfen werden.
Doch nicht nur die Lager, auch die Fahrten in Viehwaggons sind hart. Einmal − als sie durch Berlin fuhren, oder vielleicht auch Wien; da ist Nadija auch unsicher − geraten sie in einen Luftangriff. Die Aufseher rennen weg, lassen die Gefangenen im Waggon eingesperrt. Der Beschuss dauert Stunden. Nadija scheint es, als würde um sie herum ein Haus nach dem anderen zusammenfallen.
Im Sommer 1944 bringt man sie nach Stettin (heute polnisch Szczecin). Nadija und ihre Pflegeeltern kommen in ein Lager auf dem Gelände einer Stettiner Fabrik, die Ziegel und Dachsteine produziert. Dort arbeiten sie für die Firma von Walter Kück: „Kiesgruben und Tiefbau“. Seit die Alliierten die Stadt bombardieren, entsteht in einem Hügel auf dem Fabrikgelände ein Luftschutzkeller. Für die Stadt wird ein kilometerlanger Bunkertunnel gebaut. Nadija arbeitet am Bau dieses Tunnels mit.
Die Arbeit am Tunnel ist für Nadija und ihre Familie das Schwierigste, was sie in Deutschland erleben. Am Bau werden viele Menschen eingesetzt - Ostarbeiter·innen, Kriegsgefangene, aber auch Deserteure. Nadija erinnert sich, wie italienische Soldaten, die von der Front fliehen wollten, vor Hunger in menschlichen Exkrementen nach nicht verdauten Erbsen suchten.
Nadija und ihre Familie gehören zu Millionen Zwangsarbeiter·innen im Dritten Reich. Während des Zweiten Weltkriegs arbeiten auf dem Gebiet Nazideutschlands und seiner Verbündeten sowie in den besetzten Gebieten etwa 13,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder aus 26 europäischen Staaten unter Zwang.
In der Regel leben die Zwangsarbeiter·innen in speziellen Lagern. Die Überlebenschancen hängen vom Einsatzort ab. Am härtesten waren staatliche Produktionsbetriebe, Metallindustrie und Bergbau. Etwa die Hälfte der Ostarbeiter·innen wird in der Industrie eingesetzt.
Zwangsarbeit wird im NS-Kriegsstaat in fast allen Bereichen genutzt. Bis heute existiert keine vollständige Liste der Betriebe, in denen Ostarbeiter·innen und andere Gefangene eingesetzt wurden.
Allein in Berlin gibt es beispielsweise mehr als 10.000 solcher Einsatzorte.
Die Einsatzorte sind sehr unterschiedlich: In sehr vielen werden bis zu Duzenden Menschen zur Arbeit gezwungen, ...
... in anderen mehrere Tausend.
Viele müssen für Unternehmen wie Siemens arbeiten ...
... oder für Lufthansa.
Die meisten Zwangsarbeiter·innen kommen aus der Sowjetunion. Die nationalsozialistischen Beamten gaben dieser multiethnischen Gruppe die Bezeichnung Ostarbeiter. In der Rassenideologie des Deutschen Reiches stehen sie nur einer Hierarchiestufe bevor sowjetischen Kriegsgefangenen und Juden.
Unter den Zwangsarbeitern in den Städten überwiegen Männer, im ganzen Dritten Reich jedoch – Frauen.
Unter „Ostarbeitern“ gibt es im Vergleich zu anderen ausländischen Arbeitergruppen den höchsten Anteil an Minderjährigen.
„Unser sowjetisches Mädchen“
Einmal trifft bei einem Luftangriff eine Bombe das Lager. Seitdem schlafen die Ostarbeiter·innen auf dem Boden in halbzerstörten Häusern und essen wilde Champignons von den Hängen der Umgebung. Als sich die Rote Armee der Oder und damit Stettin nähert, werden Nadija und ihre Pflegeeltern noch einmal an einen neuen Ort geschickt – zu einem Bauern bei Neubrandenburg.
Erst im April 1945 werden sie endlich befreit. Da hat Nadija blau angelaufene Hände und trägt ein Sackkleid, genäht aus irgendeiner Decke. Sie hört, wie ein Rotarmist bei ihrem Anblick zu einem anderen sagt: „Wanja, schau dir unser sowjetisches Mädchen an. Was haben sie nur aus unserem Kind gemacht?“
Nach Kriegsende in Europa findet sich die Mehrheit der Zwangsarbeiter·innen aus dem Osten in Lagern für Kriegsvertriebene wieder. Vor dem Rücktransport von Millionen Sowjetbürgern wurden in Rekordzeit hunderte verschiedene Lager geschaffen. Die größte Masse der Repatriant·innen durchläuft Überprüfung und Filtration in Front- und Truppenlagern, in Durchgangslagern des Verteidigungsministeriums und in Überprüfungs- und Filtrationsstellen des NKWD, die von eigenen Mitarbeitern und des Abschirmdienstes SMERSch geführt wurden.
Die größte Masse der Repatriant·innen durchläuft Überprüfung und Filtration in Front- und Truppenlagern, in Durchgangslagern und in Überprüfungs- und Filtrationsstellen.
Als Ergebnis der sowjetischen Überprüfung kehren 1945–46 zwar 58 Prozent der Repatriant·innen zu ihren Familien an den ursprünglichen Wohnort zurück. Alle anderen werden in die Rote Armee oder sogenannte Arbeitsbataillone gesteckt, verhaftet oder zur Arbeit in Sammellagern oder anderen sowjetischen Militäreinheiten und Einrichtungen im Ausland verpflichtet.
Aber auch wer an seinen Herkunftsort zurückkehren darf, wird mit Schwierigkeiten konfrontiert: zusätzliche Überprüfungen, Registrierung beim lokalen NKWD. Die Repatriant·innen dürfen nicht in Metropolen wie Moskau, Kyjiw oder Leningrad leben, auch nicht in Städten mit strategisch wichtigen Betrieben wie Charkiw, Dnipropetrowsk oder Donezk. Nur wenige ehemalige Zwangsarbeiter·innen können studieren und hohe Posten erreichen.
Über die Vergangenheit müssen alle schweigen.
Nadija und ihre Pflegefamilie gehen statt in die UdSSR in die Heimat von Onkel Marcel Reinhard – ins polnische Grodzisk Mazowiecki. Polen, besonders Warschau, liegt in Ruinen, Leben kehrt nur langsam zurück. Marcel bekommt sofort Arbeit im Traktorenwerk Ursus, Nadija besucht ein Gymnasium in Warschau.
Sie erinnert sich später, dass die Polen, die die Teilung ihres Landes zwischen Sowjetunion und NS-Deutschland überlebt hatten, oft „Faschisten“ und „Kommunisten“ − deutsche und sowjetische Menschen − gleichermaßen hassten.
Tante Lena schreibt indes immer wieder an verschiedene Instanzen, um etwas über das Schicksal ihrer Schwester zu erfahren – Nadijas Mutter.
Im Sommer 1948 dann kommt endlich eine Antwort. „Tante Lena griff diesen Brief, und rief, noch bevor sie ihn öffnete: Weißt du, von wem der ist?“
Der Brief ist von ihrer Mama. Paraskowija wird 1948 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Straflager Siblag entlassen. Als sie in die Ukraine zurückkehrt, wiegt sie 38 Kilogramm und leidet durch Vitaminmangel an Pellagra.
Contributors
- Drehbuch und Text: Tetiana Pastushenko
- Illustrationen: Anna Che
- Animationen: VICTORIA SPIRYAGINA UND PHILIPP YARIN
- Redaktion: Dmitry Kartsev, Leonid A. Klimov, Peggy Lohse
- Übersetzung aus dem Russischen: Tina Wünschmann
- Übersetzung der Quelle von Nadija Sljessarjewa: PEGGY LOHSE
- Karten: ARTYOM SCHTSCHENNIKOW
- Design: village one
- Für die Daten zu Zwangsarbeit danken wir DOKUMENTATIONSZENTRUM NS-ZWANGSARBEIT
- Veröffentlicht: 8. August 2024