DerKriegUndSeineOpfer
Neunte Folge: Die Schlucht
In den nordwestlichen Außenbezirken Kyjiws liegt ein Ort – in den 1930er Jahren kannten ihn nur Einheimische. Ins Deutsche kann man seinen Namen als Weiber-Schlucht übersetzen. Doch besser bekannt ist er unter seinem russischen bzw. ukrainischen Namen, der in die Geschichte eingegangen ist: Babyn Jar.
Jeder, der sich diesem Ort nähert, wird erschossen
Bis ins 19. Jahrhundert gehörte diese lange und tiefe Schlucht zur ausgedehnten Ödlandzone außerhalb der ukrainischen Hauptstadt, erst mit Beginn der Industrialisierung wächst Kyjiw an sie heran. Westlich, im Vorort Syrez, wird ein Übungslager der Armee errichtet, südlich und östlich entstehen ausgedehnte Friedhöfe. Die Schlucht selbst bleibt hingegen weitgehend ungenutzt. An manchen Stellen wird Sand für Bauprojekte in Kyjiw abgebaut. Wo es Gras gibt, weiden Ziegen.
Im Frühsommer 1941 wird die Schlucht abgeriegelt und die deutschen Besatzer stellen Schilder auf: Jeder, der sich diesem Ort nähert, wird erschossen. Am 29. September 1941 kommt Dina Pronitschewa an diesen Ort.
Die erschossene Wiedergeburt
Dina Pronitschewa stammt nicht aus Kyjiw. Ihre jüdische Familie war 1916 dorthin gezogen, mitten im Ersten Weltkrieg, aus dem nordukrainischen Tschernihiw. Seitdem befindet sich die ukrainische Hauptstadt im permanenten Umbruch: Oktoberrevolution, Hungersnöte und der Bürgerkrieg erschüttern Kyjiw und lassen seine Bevölkerungszahl stark schwanken. Allein zwischen 1919 und 1920 verlassen 180.000 der damals 540.000 Einwohner die Stadt.
Bei der Volkszählung 1939 gibt mehr als ein Viertel der Einwohner als Nationalität „jüdisch“ an
Nur die Zahl der jüdischen Menschen steigt kontinuierlich an, denn obwohl es auch hier Pogrome gibt, bietet die Metropole doch einen gewissen Schutz vor antisemitischer Gewalt. Bei der letzten Volkszählung vor dem Zweiten Weltkrieg 1939 gibt mehr als ein Viertel der inzwischen knapp 850.000 Einwohner als Nationalität „jüdisch“ an.
Über Dina und ihre Familie wissen wir nur wenig. Mit ihren Eltern – dem Glaser Miron Mstislawskij und seiner Frau Anna Mstislawskaja – sprach Dina daheim russisch, sie besuchte in Kyjiw allerdings eine ukrainische Mittelschule. Die dort erworbenen Sprachkenntnisse sollten für sie unter der deutschen Besatzung entscheidend werden. 1932 heiratet Dina den Russen Alexander Pronitschew.
„National in der Form, sozialistisch im Inhalt“
In der Zwischenkriegszeit folgt die sowjetische Nationalitätenpolitik dem Grundsatz: „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“. Trotz der damit verbunden politischen Einschränkungen entwickelt sich in Kyjiw neben der ukrainischen auch eine lebendige jüdische Kulturszene. Es entstehen jüdische Schulen und ein Institut für Proletarische Jüdische Kultur, jiddischsprachige Schriftsteller wie Perets Markisch oder Dovid Hofschtejn führen ihre Werke im neugegründeten Jüdischen Nationaltheater auf.
Dieses kulturelle Leben ergreift auch die junge Dina: Sie absolviert eine Theaterfachschule und die Militärschule für Kommunikation, besucht das Theaterinstitut, schließt es aber nicht ab. Dennoch tritt sie schließlich eine Stelle als Schauspielerin im Kyjiwer Puppentheater an.
Die Stalinsche Repressionswelle der 1930er Jahre beendet die Phase der kulturellen Vielfalt
Die Stalinsche Repressionswelle der 1930er Jahre beendet die Phase der kulturellen Vielfalt. Jüdische Kulturschaffende werden in ihrer kulturellen und nationalen Identität beschnitten. Und noch stärker verfolgt werden ukrainische Intellektuelle: Schriftsteller werden verhaftet, verschleppt und erschossen. In der Ukraine spricht man heute noch von der „Erschossenen Wiedergeburt“. Gleichzeitig werden auch die meisten jüdischen Kulturinstitutionen sowie alle jüdischen Schulen geschlossen.
Als die Deutschen am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfallen, müssen Dinas männliche Kollegen am Puppentheater zur Roten Armee. Das Theater stellt seinen Betrieb ein. Auch Dinas Ehemann wird eingezogen, sie bleibt mit ihren beiden Kindern, damals ein und drei Jahre alt, in der Stadt zurück. Da sie Maschinenschreiben kann, stellt sie sich als Sekretärin dem sowjetischen Militär, dem Stab der 37. Armee zur Verfügung.
Sofort nach Beginn der Invasion stößt die Heeresgruppe Süd der Wehrmacht tief in die Ukraine vor. Schon zwei Wochen später erreicht ein erster Verband der Panzergruppe 1 den Fluss Irpin – und steht damit nur etwa zehn Kilometer westlich der ukrainischen Hauptstadt.
Der Roten Armee gelingt es Ende Juli 1941, die Südwestfront zu stabilisieren.
Im August 1941 wird von Hitler persönlich eine folgenreiche Entscheidung getroffen: Die Heeresgruppe Süd soll von der 2. Armee der Heeresgruppe Mitte unterstützt werden.
Nach der Schlacht von Smolensk, von der wir in der fünften Folge erzählt haben, schwenken einige Einheiten nach Süden, erobern Gomel und bilden mit der Heeresgruppe Süd am Dnjepr eine gemeinsame Front. Dabei kesseln sie bei Kyjiw die sechs sowjetischen Armeen unter Generaloberst Michail Kirponos ein.
Dieser bittet Stalin, die Stadt räumen und seine Einheiten nach Osten zurückziehen zu dürfen. Doch der Diktator gibt erst am 17. September seine Zustimmung. Da ist es längst zu spät für einen Ausbruch. Der Kessel ist seit einer Woche geschlossen.
In Kyjiw bricht Panik aus. Die Stadt ist bereits mit Flüchtlingen überfüllt, viele schlafen in Parks unter freiem Himmel. Die sowjetische Führung ordnet zwar Anfang Juli die Evakuierung an, die betrifft jedoch hauptsächlich wichtige Behörden und Industriebetriebe. Nur Fachleute und hohe Kader erhalten Fahrkarten für die Transporte Richtung Osten.
Zur gleichen Zeit verhaftet die sowjetische Geheimpolizei hunderte vermeintliche „Volksfeinde“, „Defätisten“ und Deserteure. Viele von ihnen werden in Bykiwnja erschossen – einem Waldstück wenige Kilometer nordöstlich der Stadt, wo das NKWD schon während des Großen Terrors 1937 Tausende seiner Opfer verscharrt hat.
Die Wehrmacht wirft über der Stadt unzählige Flugblätter ab. „Schlagt die Jidden!“, ist auf ihnen zu lesen
Viele Jüdinnen und Juden ahnen, dass ihnen von den Deutschen ein noch größeres Unheil droht. Die Wehrmacht wirft über der Stadt unzählige antisemitische Flugblätter ab. „Schlagt die Jidden!“, ist auf ihnen zu lesen. Mehr als zwei Drittel der Kyjiwer Juden verlassen die Stadt, mindestens 50.000 jedoch bleiben zurück.
Als Dina am 17. September 1941 zur Arbeit erscheint, erfährt sie von ihren Vorgesetzten, dass sich die Rote Armee zurückziehen wird. Sie und ihre kleinen Kinder könnten aber bleiben. Sie entscheidet sich gegen mögliche Gefahren und Unsicherheiten einer Evakuierung – und bleibt.
„Wir sind Russen“
Bis Mitte Oktober durchläuft Dawydow vier verschiedene Kriegsgefangenenlager, darunter eines in Darniza am östlichen Stadtrand von Kyjiw. Die Versorgungslage dort ist katastrophal, die Deutschen lassen die Gefangenen gezielt hungern. Am schlimmsten ist die Lage für die jüdischen Gefangenen: Auf einem Platz in der Mitte des Lagers werden Hunderte von ihnen separat eingezäunt und zusammengepfercht. Sie sterben, weil sie nichts zu essen und zu trinken bekommen.
Die Versorgungslage dort ist katastrophal, die Deutschen lassen die Gefangenen gezielt hungern
Die übrigen Kriegsgefangenen werden gezwungen, die jüdische Gefangenengruppe mit Steinen zu bewerfen, und auch die Deutschen werfen mit Steinen und schlagen mit Stöcken auf sie ein.
Die Deutschen nehmen allein bei Kyjiw bis zum 26. September rund 600.000 Rotarmisten gefangen. Unter ihnen befindet sich auch der 26-jährige Wladimir Dawydow. Er ist Jude und wie viele Männer direkt nach dem deutschen Überfall mobilisiert worden. Zuvor hatte er in der Verwaltung von Wolgostroj gearbeitet, einer Abteilung der Gulag-Struktur, die Staudämme an der Wolga errichtete.
Wladimir kann seine jüdische Herkunft verbergen. Seine Eltern hatten sich 1912, drei Jahre vor seiner Geburt, taufen lassen, damit sein Vater in St. Petersburg das Konservatorium besuchen konnte. Seit seiner Jugend gibt Wladimir stets an, dass er Russe sei. In Darniza rettet ihm dies das Leben.
Seit seiner Jugend gibt Wladimir stets an, dass er Russe sei
In der Stadt besucht unterdessen Dina Pronitschewa ihre Eltern, bei denen auch die jüngere Schwester lebt. Sie ist sehr aufgeregt, weil sie gesehen hat, wie jemand eine jüdische Schauspielerin aus dem vierten Stock eines gegenüberliegenden Haus geworfen hat. Dina selbst erlebt kurz darauf, wie eine jüdische Nachbarin bei ihr über den Hof und durch das ganze Haus gejagt wird.
Bald kommen auch zu ihr die Deutschen: Um die in der Stadt lebenden Juden zu erfassen, ziehen sie von Wohnung zu Wohnung. Dina wohnt bei ihrer Schwiegermutter, einer frommen Frau. Als die Deutschen zu ihnen kommen, zeigt sie auf die orthodoxen Ikonen. Das hieß: „Wir sind Russen.“ Und die Deutschen gehen fort.
Als die Deutschen kommen, zeigt sie auf die orthodoxen Ikonen. Das hieß: „Wir sind Russen.“
Am 24. September 1941 explodiert im Kyjiwer Stadtzentrum eine Reihe von Sprengsätzen. Sabotagegruppen des NKWD haben sie vor dem sowjetischen Abzug seit August in den Prachtbauten entlang des Chreschtschatyk-Boulevards platziert. Auch im Hotel Continental, in dem nun der Stab der deutschen 6. Armee untergebracht ist. Bei der Explosion sterben zahlreiche Offiziere der Wehrmacht; die Brände greifen auf die umliegenden Straßen über und legen große Teile der Innenstadt in Asche.
Der deutsche Stadtkommandant Kurt Eberhard und der damalige Leiter des Sonderkommandos 4a, Paul Blobel, beschließen, eine ohnehin geplante antijüdische Mordaktion vorzuziehen. In internen Dokumenten wird das Massaker als Vergeltung für die Anschläge ausgegeben. Die Wehrmacht stellt die Munition. Der bei der Durchführung von Massenerschießungen bereits erfahrene Blobel leitet die dafür zusammengestellten Mordkommandos. Er hat auch schon einen passenden Ort für das Massaker ausgesucht.
Am 28. September 1941 erscheint überall in der Stadt ein Befehl, in dem es heißt: „Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September, bis 8 Uhr Ecke Melnikow- und Doktoriwski-Straße einzufinden.“ Mitzubringen seien warme Kleidung und Wertsachen. Wer nicht erscheine, werde erschossen.
Dina wohnt im Stadtzentrum in der Worowski-Straße. Am Abend des 28. September besucht sie ihre Familie in der Turgenew-Straße.
Vater, Mutter und Schwester sind in großer Sorge und bitten Dina, bei ihnen zu übernachten.
Am nächsten Tag, dem 29. September, brechen sie gegen 7 Uhr gemeinsam zur Sammelstelle auf.
In den engen Straßen der Innenstadt ist kaum ein Durchkommen. Abertausende ziehen, teils mit all ihrer Habe auf Karren, zum westlichen Stadtrand.
Pünktlich um 8 Uhr morgens sind sie da und gehen weiter Richtung jüdischen Friedhof.
Sie passieren einen Panzergraben mit Stacheldrahtverhau. Die Deutschen haben ihn zu einer Sperre umgewandelt: Wer sie passiert hat, befindet sich im abgeschirmten Bereich um das Exekutionsgelände und wird nicht mehr zurückgelassen.
Vermutlich hier zählen die Deutschen ihre Opfer und kommen so später auf die irritierend exakte Zahl von 33.771 Männern, Frauen und Kindern.
Weiter folgen wir Dina so, wie sie es beschrieben hat.
„Nachdem sie diese Absperrungen passiert hatten, gingen die Menschen noch 50 oder 100 Meter weiter, dann bogen sie nach links ab, sodass der jüdische Friedhof dann auf der rechten Seite lag.
Dort am Zaun wurden ihnen alle Sachen abgenommen und gestapelt, Essen und Kleidung getrennt. Wertgegenstände wie Pelzmäntel, Uhren, Ringe, Ohrringe nahmen die Deutschen direkt an sich und teilten es untereinander auf.
Von diesem Ort, wo am Zaun die Kleiderstapel wuchsen, schickte man die Menschen nach rechts. Sie gingen weiter durch ein Wäldchen, dahinter führte der Weg abwärts.
Dort standen dann Deutsche mit Stöcken und Hunden. Durch diesen Korridor schickten sie ein bis zwei Personen. Während sie den Korridor passierten, schlug man sie.
Nach dem Korridor fielen sie direkt den Polizisten in die Hände, die sie auf einem großen Platz die auszuziehen halfen, ganz nackt.
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Die nackten Menschen jagten sie dann auf den Hügel. Als sie man den Gipfel erreicht hatten, traten sie durch eine Scharte in einem Sandwall an die Schlucht. Auch ich und meine Verwandten sind diesen Weg gegangen.
Ich hörte Maschinengewehrfeuer und verstand, dass man die Menschen hierhin jagte, um sie zu vernichten“.
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Babyn Jar
Als Dina durch den „Korridor“ geht, prügeln von links und rechts SS-Männer mit Schlagringen, Ketten und Knüppeln auf sie ein. Sie schützt ihren Kopf mit den Händen und verliert ihre Verwandten aus den Augen. Das ist die Absicht der Deutschen: Die Menschen in der Menge sollen desorientiert und gefügig gemacht werden.
Auf einem Plateau neben der Schlucht angekommen, reißt sich Dina zusammen und wendet sich an einen einheimischen Hilfspolizisten. Sie verlangt auf Ukrainisch, den Kommandanten zu sprechen. Sie sei Ukrainerin und nur durch Zufall hierher geraten, weil sie Bekannte verabschieden wollte. Er fragt nach ihren Papieren. Sie zeigt ihr Arbeitsbuch. Darin ist nur ihr russisch klingender Name eingetragen. Er glaubt ihr und schickt sie zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die auch nur als Begleitpersonen mitgekommen waren. Wenn der „Arbeitstag“ vorbei sei, heißt es, werde man sie alle zurück in die Stadt bringen.
Wenn der „Arbeitstag“ vorbei sei, heißt es, werde man sie alle zurück in die Stadt bringen.
Den ganzen Tag über muss Dina zusehen, wie Menschen von dem Plateau durch eine Scharte im Sandwall in die nebenan liegende Schlucht getrieben werden, sie hört von dort die Schüsse der Täter und die Schreie der Opfer.
Abends kommt ein Auto mit einem deutschen Offizier. Er schreit: Wenn nur einer herauskommen würde, würde die ganze Stadt erfahren, was hier geschieht. Und am nächsten Tag würde niemand mehr kommen. Darum sollen auch alle Begleitpersonen erschossen werden. Und so wird auch Dina hinüber zur Schlucht getrieben.
SS-Männer steigen auf die Leichen und geben Fangschüsse auf Sterbende ab. Dina aber ist unverletzt und stellt sich tot, selbst als die Deutschen auf sie einschlagen und eintreten, um zu prüfen, ob sie womöglich noch lebt. Sie erträgt es stumm und bleibt in der Dunkelheit unbemerkt.
Es beginnt eine Odyssee durch die Umgebung. Tagsüber verbirgt sie sich in Büschen und auf einer Müllhalde, nachts versucht sie, zurück in die Stadt zu gelangen.
Als die Deutschen weg sind, kriecht sie den steilen Abhang empor, den sie heruntergesprungen ist. Es beginnt eine Odyssee durch die Umgebung. Tagsüber verbirgt sie sich in Gebüschen und auf einer Müllhalde, nachts versucht sie, zurück in die Stadt zu gelangen. Unterwegs beobachtet sie aus ihren Verstecken, wie SS-Männer jüdische Frauen vergewaltigen und ermorden, trifft auf einen 14-Jährigen, der das Massaker ebenfalls überlebt hat, dann aber einem Wachmann in die Arme läuft, der ihn erschießt.
Schließlich versteckt sie sich in einem Schuppen. Doch eine Anwohnerin liefert sie und zwei jüdische Mädchen an die Deutschen aus.
Dina erkennt: Die Deutsche bringen sie zum selben Platz, wo sie vier Tage zuvor ausgezogen wurden. Erst da wird ihr klar, dass sie vier Tage lang im Kreis herumgekrochen ist und nun wieder am selben Ort ankommt.
Die Deutsche bringen sie zum selben Platz, wo sie vier Tage zuvor ausgezogen wurden.
Die Deutschen führen Dina und die anderen Versprengten nicht erneut zur Erschießung, denn in der Schlucht sind gerade sowjetische Kriegsgefangene eingeteilt, den Boden über den Leichen einzuebnen. Mit Lastwagen bringt man die Gruppe zurück zum Sammelplatz vor dem jüdischen Friedhof, um sie in die dortigen Großgaragen zu sperren. Diese dienen als Zwischenlager für jene, die nach dem Großmassaker aufgegriffen werden.
Doch an diesem Tag sind die Garagen bereits überfüllt. Auf der Fahrt in ein anderes Lagerprovisorium springt Dina in Schuljawka aus dem Lkw und flieht zu ihrer Cousine. Damit beginnt der zweite Teil ihrer Odyssee.
Im Vorort Darniza arbeitet sie den Winter über in einer Fabrik als Sekretärin, bis sie denunziert wird und im Februar 1942 nach Kyjiw zurückkehrt. Nirgendwo kann sie länger bleiben; wer eine Jüdin beherbergt, begibt sich selbst in Lebensgefahr.
Eine Weile kann sie bei ehemaligen Theater-Kolleg·innen übernachten, doch stets nur eine Nacht. Bald fühlt sie sich von allen Bekannten gemieden und muss, ohne Geld und ohne Bleibe, in Kellern, Ruinen und auf Dachböden nächtigen.
Dina fühlt sich von allen Bekannten gemieden und muss, ohne Geld und ohne Bleibe, in Kellern, Ruinen und auf Dachböden nächtigen
Bald erkrankt Dina, wird ins Krankenhaus eingeliefert, dort erneut denunziert und landet im Lukjaniwska-Gefängnis der ukrainischen Polizei. Einer der Hilfspolizisten soll sie zur Gestapo eskortieren, doch er arbeitet für den kommunistischen Untergrund und lässt sie unterwegs frei.
Dann setzt sie sich nach Bila Zerkwa ab, heuert dort bei einem Kyjiwer Theater an, das in der Stadt Gastspiele gibt, versucht sich anschließend in Rokytne als Dolmetscherin, erregt Misstrauen wegen ihrer schlechten Deutschkenntnisse und wechselt daraufhin bis November 1943 immer wieder zwischen Bila Zerkwa, Rushyn und Kasatyn.
Diese Odyssee endet erst im November 1943, als die Deutschen aus Kyjiw abziehen. Doch bevor sie es tun, müssen sie in Babyn Jar noch etwas erledigen.
Sonderaktion 1005
Dem jüdischen Ex-Rotarmisten Wladimir Dawydow gelingt es Mitte Oktober 1941, als „Russe” aus deutscher Kriegsgefangenschaft freizukommen. Er kehrt nach Kyjiw zurück, findet aber seine Wohnung geplündert vor – wie die so vieler anderer geflüchteter oder ermordeter jüdischer Menschen. Also klopft er bei seinem Nachbarn und guten Bekannten der Familie, Michail Lebedew. Eine Nacht kommt Wladimir bei ihm unter, kann sich waschen und frische Kleidung anziehen.
Danach kommt er zehn Monate bei seinen Schwiegereltern unter und baut in dieser Zeit mit einem Bekannten einen Scheinbetrieb auf, um nicht als Arbeitsloser zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert zu werden. Anschließend betreibt er in Chabne (heute Poliske), einer Kleinstadt 100 Kilometer nordwestlich von Kyjiw, ein Kino und kommt nur noch in die Hauptstadt, um neue Filme zu besorgen.
Dann wird er zweimal verhaftet, weil man ihn verdächtigt, Jude zu sein. Beim ersten Mal lässt ihn die Gestapo nach einigen Tagen frei, weil er nicht beschnitten ist. Beim zweiten Mal – im März 1943 – schickt man ihn ins KZ Syrez.
Das Konzentrationslager Syrez wird im April 1942 als „Arbeitserziehungslager“ errichtet. Neben Kommunisten und Kriminellen werden dorthin auch aufgegriffene Juden eingeliefert – sofern sie arbeitsfähig sind. Als Ort wird das Territorium des ehemaligen Militärlagers ausgewählt.
Das Lager befindet sich in unmittelbarer Nähe von Babyn Jar; die Schlucht wird nach dem Massaker Ende September 1941 weiter als Erschießungsort genutzt.
Allein bis Januar 1942 werden hier weitere 8000 Jüdinnen und Juden getötet. Die Deutschen erschießen hier außerdem Psychiatriepatient·innen, Rom·nja, Kommunist:innen. In der Schlucht und in den Panzergräben der Umgebung werden zudem etwa 20.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet.
Babyn Jar wird somit nicht nur zu einer der größten Erschießungsstätte, sondern auch zu einem gigantischen Massengrab mit zehntausenden Leichen.
Die NS-Führung entwickelt bereits im März 1942 eine Vorgehensweise, die Leichen ihrer Opfer in den besetzten Gebieten einzuäschern. Von Niederlage mag dort noch niemand sprechen, der Blitzkrieg jedoch ist offenkundig gescheitert und man fürchtet, „Gräuelmeldungen“ über die deutschen Verbrechen könnten irgendwann dem Regime schaden.
Deshalb wird das streng geheime Sonderkommando 1005 aufgestellt, das die Leichen beseitigen soll. Die Leitung erhält Paul Blobel – jener SS-Führer, der schon einen Großteil der Mordaktionen geleitet hat, auch die in Babyn Jar. Monatelang führen Blobels Untergebene Tests durch, bis sie ein gangbares Verfahren entwickelt haben.
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Jüdinnen und Juden wurden unter deutscher Besatzung fast allerorts erschossen, niemand hat genau Buch geführt über die Massaker und häufig wissen die Deutschen nicht mehr, wo sie ihre Opfer verscharrt haben.
Das ist bei Babyn Jar nicht der Fall. Mit beiläufigem Stolz hat Paul Blobel gar einen Besucher bei einer Dienstfahrt von der Gestapo-Zentrale in Kyjiw zum KZ Syrez auf die halb eingeebnete Schlucht hingewiesen und gesagt: „Hier liegen meine Juden.“
Die Beseitigung ihrer Leichen (und der anderen verscharrten Toten) erscheint der NS-Spitze mit dem Vormarsch der Roten Armee auf Kyjiw besonders dringlich. Erledigen sollten das die Häftlinge aus dem KZ Syrez. Einer von ihnen – Wladimir Dawydow.
Die Arbeit der Leichenbrenner in Babyn Jar wird arbeitsteilig organisiert: Während die erste Gruppe der KZ-Häftlinge die Toten ausgräbt, errichtet eine zweite die Scheiterhaufen. Eine dritte bricht den Leichen das Zahngold aus dem Kiefer und durchsucht sie nach Wertsachen. Eine vierte Gruppe zermalmt mit einer gewaltigen Mühle die nicht verbrannten Knochen und verstreut die Asche in der Schlucht.
Wladimir Dawydow wird der Gruppe zugeteilt, die die Leichen im Wechsel mit Holzstämmen unter Anleitung des deutschen Ingenieurs auf die eisernen Roste schichtet und zur Verbrennung vorbereitet.
Die Zahl der Leichen war so groß, dass immer mehr Häftlinge aus dem KZ herbeigeholt werden
Die Zahl der Leichen war so groß, dass immer mehr Häftlinge aus dem KZ herbeigeholt werden. Zwischen Mitte August und Ende September 1943 findet die Leichenverbrennung gleichzeitig an drei Orten in der Schlucht statt.
Es werden Dutzende „Öfen“ gebaut, bis zu vier Meter hoch, in jedem circa 2000 Leichen mit Brennholz. Wenn ein Scheiterhaufen fertig ist, wird er mit Öl übergossen und angezündet. Die Scheiterhaufen brennen dann bis zu zwei Tage lang.
Während der Verbrennung werden in Babyn Jar weiter Menschen ermordet – in Gaswagen. Zusätzlich werden Leichen auch aus anderen Orten hierher gebracht.
Wie viele Leichen so verbrannt wurden, ist nicht bekannt, Dawydow selbst schätzt die Zahl auf 70.000
Wie viele Leichen so verbrannt wurden, ist nicht bekannt, Dawydow selbst schätzt die Zahl auf 70.000. Die Häftlinge aus dem Sonderkommando werden gefoltert und geschlagen. Und als es keine Leichen mehr zu verbrennen gibt, müssen sie den letzten Scheiterhaufen bauen – für sich selbst.
In der Nacht auf den 30. September 1943, genau zwei Jahre nach dem Massaker in Babyn Jahr, entscheiden sich die Häftlinge zum Ausbruch. Von den mehr als 300 Häftlingen gelingt jedoch nur 15 Männern die Flucht durch den Kugelhagel der Wachmannschaften. Unter ihnen ist Wladimir Dawydow.
Anfang November wird Kyjiw von der Roten Armee befreit. Von knapp 850.000 Einwohner·innen der Vorkriegszeit bleiben in Kyjiw schätzungsweise nur 180.000. Die Stadt ist ausgeblutet.
Die Asche
Vor dem Krieg war Babyn Jar ein Spielplatz für Kinder der näheren Umgebung. Auch für den jungen Anatoli Kusnezow aus Kureniwka, östlich von der Schlucht.
Dann sperren die deutschen Besatzer das riesige Gelände mit Stacheldraht und Stromzaun ab. Täglich donnern die Salven der Maschinengewehre. Am Ende des zweiten Besatzungsjahres steigt wochenlang dicker, schwerer Rauch auf.
Das ist kein Sand mehr, das ist menschliche Asche
Nach der Befreiung geht Anatoli wieder mit Freunden in die Schlucht. Sie wandern am Bach entlang stromaufwärts. Sie finden erst kleine Knochenteile, dann die Quellen des Bächleins, die Knochen aus den Sandschichten herausschwemmen. Die Schlucht wird schmal und der Sand grau. Die Jungen verstehen. Das ist kein Sand mehr, das ist menschliche Asche.
Anatoli Kusnezow wird später Journalist. Mit seinem dokumentarischen Roman „Babij Jar. Die Schlucht des Leids“ rührt Kusnezow in den 1960er Jahren an einem Tabu.
Vom Völkermord an den Juden darf in der Sowjetunion zu dieser Zeit nicht gesprochen werden.
Contributors
- Text und Drehbuch: Bert Hoppe
- Illustrationen: Anna Che
- Animationen: VICTORIA SPIRYAGINA
- Redaktion: Peggy Lohse und Leonid A. Klimov
- Zitate (gekürzt): Aussagen von Dina Pronitschewa und Wladimir Dawydow, Dokumentarroman von Anatoli Kusnezow
- Übersetzung der Zitate: Friederike Meltendorf
- Karten: ARTYOM SCHTSCHENNIKOW
- Design: VILLAGE ONE
- Veröffentlicht: 14. Februar 2025