DerKriegUndSeineOpfer
Fünfte Folge: Blockiert
Der 11. Februar 1942 ist ein strenger Wintertag in Leningrad. Bei minus 30 Grad Frost treibt ein Schneesturm durch die Straßen. Die 17-jährige Schülerin Lena Muchina zieht beschwerlich einen Schlitten. Eine Hauswartsfrau hilft ihr. Sie gehen in die Maratstraße 76, ein Wohnhaus, das vorübergehend als Leichenhaus dient.
Später kommt die Sonne raus. Die beiden gehen zu einer Bäckerei, wo Lena 600 Gramm Brot bekommt. Die Hälfte gibt sie an die Hauswartsfrau ab − für ihre Hilfe. Dann geht sie zur Schule − nicht zum Lernen, sondern für eine Portion Suppe und Hirsebrei mit etwas Butter. Wieder zuhause, sägt sie Brennholz und heizt den Ofen an. Langsam wird es wärmer im Zimmer: 12 Grad.
„Ein Mensch wird nicht mutig, stark oder geschickt geboren. Das lernt er beharrlich und ausdauernd, genauso wie das Lesen und Schreiben.”
Sie will noch Wasser holen, hat aber keine Kraft mehr. Was sie noch schafft, ist Tagebuch zu schreiben. Das hat sie vor neun Monaten begonnen. Sie schreibt oft, fast jeden Tag. Manchmal mehr, manchmal weniger. Der erste Eintrag hat kein Datum, es muss Ende Mai 1941 gewesen sein − etwa einen Monat vor dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion.
Da schrieb sie: „Jeder kann geschickt, stark und mutig werden. Dafür braucht man nur eins – Willensstärke. Ein Mensch wird nicht mutig, stark oder geschickt geboren. Das lernt er beharrlich und ausdauernd, genauso wie das Lesen und Schreiben.”
In diesem Jahr muss Lena viel lernen. Beharrlich und ausdauernd.
Beengt unter Fremden
Vor dem Krieg lebt Lena Muchina mit Mama Lena und deren Freundin Asalia zusammen, die sie einfach Aka nennen. Mama Lena ist eigentlich nicht ihre leibliche Mutter, sie ist ihre Tante und heißt mit vollem Namen Jelena Bernazkaja (geb. Muchina). Ihre richtige Mutter war lange schwer krank. Tante „Mama Lena“ übernimmt die Mutterrolle.
Lena, Aka und Mama Lena leben in nur einem Zimmer einer Kommunalka. Mehrere Familien in einer ehemals bürgerlichen, großen Altbauwohnung. Jede in einem Zimmer, mit geteilter Küche und Bad für alle auf dem Flur.
Mehrere Familien leben in einer ehemals bürgerlichen, großen Altbauwohnung. Jede in einem Zimmer, mit geteilter Küche und Bad für alle auf dem Flur.
Mama Lena verdient wenig als Bühnenbildnerin. Sie war früher Ballerina, kann aber seit einem Unfall nicht mehr tanzen. Oft muss sie bei Nachbarn und Bekannten Geld leihen. Nichts Ungewöhnliches: Ein großer Teil der Leningrader Stadtbevölkerung lebt zu jener Zeit prekär. Ganz eng mit den Nächsten, umgeben von unzähligen Fremden, die − wie man selbst − den sowjetischen Alltag zu bestehen versuchen.
Als Lena im Mai 1941 beginnt, ihr Tagebuch zu schreiben, ist sie 16 Jahre alt. Sie steckt in den Abschlussprüfungen der Schule und mitten im Erwachsenwerden. Wie ihr Vorbild, der Romanheld Grigori Petschorin aus Michail Lermontows „Ein Held unserer Zeit”, will sie ihre Erlebnisse festhalten. Also schreibt sie: über die Schule, ihre Mitschüler und Klassenkameradinnen. Mit wem könnte sie sich anfreunden? Warum fällt ihr immer nichts mehr zu reden ein, wenn sie Wowka trifft? Und ob der wohl auch in sie verliebt ist − so wie sie in ihn?
Sie nimmt sich vor, eine gute Sowjetbürgerin zu werden. Aber zweifelt oft, ob sie nicht zu nachdenklich sei für die Welt.
Der Sommer
Am Mittag des 22. Juni 1941 hört Lena die offizielle Radio-Nachricht: Die Wehrmacht hat die Sowjetunion überfallen. Das Radio wird nun zum Mittelpunkt des Lebens. Lena wartet ungeduldig auf Folgeberichte. Stattdessen laufen Kriegslieder und Informationen zur Mobilisierung.
Kurz vor Mitternacht notiert sie: „Flugzeuge fliegen, kreisen über der Stadt, und auch wenn ich weiß, dass unsere sowjetischen Piloten hinter dem Steuer sitzen, ist mir trotzdem nicht ganz wohl. Denn genauso werden die Motoren der feindlichen Bomber dröhnen. Das ist furchtbar.“
Direkt in dieser ersten Kriegsnacht erlebt Lena Fliegeralarm, hört das Donnern der Flak. In der Küche klammert sie sich an Mama Lena. Nach einer halben Stunde gibt es Entwarnung, die beiden Lenas legen sich angezogen schlafen.
Die Wehrmacht soll die Rote Armee per „Blitzkrieg“ in höchstens drei Monaten besiegen und einen großen Teil der europäischen Sowjetunion erobern. So lautete ursprünglich Hitlers Plan.
Nach dem Überfall am 22. Juni 1941 dringen die Truppen schnell in die Tiefe des sowjetischen Territoriums ein. In Richtung Leningrad stößt die Heeresgruppe Nord vor. Leningrad liegt im Juni 1941 etwa 1000 Kilometer von der deutsch-sowjetischen Grenze entfernt, die nach der Besetzung Polens durch das Deutsche Reich und die Sowjetunion 1939 gezogen wurde.
Die Panzergruppe 4 sowie 16. und 18. Armee sollen in wenigen Wochen das Baltikum und die sowjetischen Häfen einnehmen, um den gesamten Ostseeraum unter deutsche Herrschaft zu bringen.
Am 1. Juli 1941 erobert die Wehrmacht Riga, am 5. Juli bereits das russische Ostrow, 50 Kilometer südlich von Pskow …
… noch rund 350 Kilometer von Leningrad entfernt.
Mit dem Beginn des Krieges ändert sich Lenas Alltag immer mehr. Zunächst besteht der Krieg für sie aus Radioberichten. Sie hört von „erbitterten blutigen Kämpfen”, deutschen Verlusten und britisch-amerikanischer Unterstützung für die Sowjetunion. Und gibt das in ihrem Tagebuch wieder.
Am 5. Juli schreibt sie, dass Deutsche sich der Stadt Smolensk nähern, trotz schwerer Verluste. Im Ausland aber wachse der Hass auf die Faschisten und die Sympathie für ihre große Heimat. Es wird eine Volksmiliz aufgebaut. Stalin spricht im Radio. Lena muss drei Stunden lang einen Lastkahn mit Ziegelsteinen entladen. Das ist Arbeitspflicht − zwar keine schwere Arbeit, aber leider ohne Bezahlung. Gestern war sie bei Wowka. Was für ein guter, gesunder und lebensfroher Mensch. Und er scherzt ununterbrochen.
In der Nachbarschaft werden Arbeitsgruppen organisiert: Lena schleppt Holz vom Dachboden herab und Sand hinauf, um die Brandgefahr im Falle eines Bombentreffers zu verringern. Ein Gasschutzraum wird gebaut. Sie verlädt Ziegelsteine, hebt Gräben aus. Immer wieder gibt es Fliegeralarm.
Mitte Juli wird Lena mit einer Gruppe Jugendlicher zum Arbeitsdienst südlich von Leningrad geschickt. Hier auf dem Land heben nachts tausende Menschen aus Leningrad brigadeweise Schützengräben aus.
„So lebten wir also. Lustig. Laut. Ausgelassen“
Die Arbeit ist hart. Es herrscht jedoch eher eine Ferienlager-Stimmung: Mädchen und Jungs lernen sich kennen, schlafen in einem Schulgebäude, albern nach Dienstschluss herum, singen, tanzen, raufen, flirten, küssen. „So lebten wir also. Lustig. Laut. Ausgelassen“, schreibt sie im Tagebuch am 25. August, als sie zurück in Leningrad ist.
Da sieht sie auch die ersten Luftkämpfe: Die Flugzeuge kreisen wie irrsinnig, man hört das Knattern der Maschinengewehrsalven in unterschiedlichen Tonlagen. Alle Flakgeschütze klingen unterschiedlich: donnern, röhren, knallen. Manchmal klingt es wie ein Flakkonzert. Und man hat Angst.
Ende August ist Lena wieder zuhause in Leningrad. Von Mama Lena erfährt sie da, dass ihre leibliche kranke Mutter vor zwei Monaten gestorben ist.
Der Herbst
Anfang September erreicht der Krieg Leningrad. Lebensmittelkarten gab es zwar schon, doch nun schrumpfen die Rationen. Lena gehört weder zu den Arbeitern noch Angestellten. Für sie gilt Kategorie III: Familienangehörige. Weniger bekommen nur noch Kinder bis 12 Jahre.
Seit Juli 1941 standen Lena 400 Gramm Brot pro Tag zu, seit 2. September nur noch 300 Gramm, ab 12. September 200. Zum Brot gab es Fleisch, Teigwaren, Fett und Süßes in schwankenden und begrenzten Mengen.
„Es war ein Krachen, ein Lärm, dass man das Gefühl hatte, dass der Himmel selbst zerbarst. Die Leute kugelten wie Erbsen die Treppe herab.”
Neuerdings dröhnt Geschützdonner durch die Stadt, Granaten treffen Häuser. Am 8. September erlebt Lena zum ersten Mal eine nahe Bombardierung, rennt in den Schutzkeller: „Es war ein Krachen, ein Lärm, dass man das Gefühl hatte, dass der Himmel selbst zerbarst. Die Leute kugelten wie Erbsen die Treppe herab.”
Ab jetzt zählt Lena Fliegeralarm um Fliegeralarm, läuft ständig in den Luftschutzkeller, für den sie ein kleines Köfferchen gepackt hat. Anfangs ist sie patriotisch gesinnt, „stolz, eine Leningraderin zu sein“. Sie teilt die von der Propaganda verbreitete Zuversicht, wiederholt sie für sich nochmal durchs Aufschreiben. Doch als sie hört, dass die Deutschen Mitte September Kyjiw erobert haben, kommen ihr Zweifel. Sie schreibt, sie sei nun gar nicht mehr überzeugt, dass Leningrad nicht aufgegeben werde. Wahrscheinlich werden die Deutschen Leningrad in Trümmer legen und dann einnehmen. Die, die es schaffen zu fliehen, werden in Wäldern leben und dort sterben − erfrieren, verhungern oder einfach getötet werden.
Doch die Wehrmacht hat zu dem Zeitpunkt nicht mehr vor, Leningrad einzunehmen. Die Armeeführung verfolgt einen anderen Plan.
Leningrad ist mit seinen rund drei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion. Hier befinden sich große Fabriken, Militärstützpunkte und der wichtige Ostseehafen. Nach Hitlers Plan sollte die Stadt im Blitzkrieg schnell eingenommen und dann komplett zerstört werden. Ebenso Moskau.
Am 20. August 1941 durchbricht die Wehrmacht die Bahnlinie Moskau-Leningrad in Tschudowo.
Am 29. August erobert sie Reval (Tallinn).
Doch der ursprüngliche „Blitzkrieg”-Plan misslingt. Trotz aller Erfolge sind die deutschen Truppen schon Ende Juli erschöpft. Gleichzeitig wächst der Widerstand der Roten Armee. Die deutsche Militärführung erkennt, dass ein gleich starker Vormarsch an allen drei Frontabschnitten Nord, Mitte und Süd unmöglich ist.
Es werden Kosten und Nutzen abgewogen. Und das Deutsche Reich konzentriert seine militärischen Kräfte auf Moskau und den Süden – die Ukraine.
Diese Entscheidung vom Sommer 1941 − also vor den eigentlichen Kämpfen um Leningrad − ist die Grundlage für das bevorstehende Leid der Leningrader Zivilbevölkerung. „Leningrad soll nicht genommen, sondern nur abgeschlossen werden”, notiert Ende Juli 1941 der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Wilhelm Ritter von Leeb, in seinem Kriegstagebuch.
Und die Bevölkerung der Stadt soll verhungern. Sowjetische Kapitulationsangebote sollen abgelehnt werden. Ende August beschließt das Oberkommando des Heeres der deutschen Wehrmacht, Leningrad sei „durch einen möglichst nahe an die Stadt heranzuziehenden und dadurch Kräfte sparenden Ring einzuschließen.” Diese Blockade-Taktik stellt einen Sonderfall im Deutsch-Sowjetischen Krieg dar.
Anfang September erreichen deutsche Truppen die ersten Vororte von Leningrad. Am 8. September nimmt die Wehrmacht die Stadt Schlüsselburg − gelegen am Beginn des Flusses Newa, an dessen Mündung wiederum Leningrad liegt. Die Stadt ist somit blockiert.
Am 16. September erreicht die Leningrader Front ein Haltebefehl. Bis Monatsende werden große Teile der deutschen Einheiten und deren stärkste Militärtechnik von dort nach Moskau verlegt. Der Nord-Abschnitt wird zum Nebenkriegsschauplatz.
Am 9. November 1941 besetzen deutsche Truppen den Eisenbahnknotenpunkt Tichwin im Osten Leningrads. Damit ist der Blockade-Ring praktisch geschlossen, weil die Eisenbahnlinie ins Innere Russlands durchbrochen und die Versorgungsrouten über den Ladogasee gestört sind.
Im eingeschlossenen Leningrad bricht die Versorgung zusammen. Es fehlt an Lebensmitteln, Energie- und Treibstoff.
Lena Muchina und der gesamten Leningrader Zivilbevölkerung steht ein harter, eisiger Winter im Überlebenskampf bevor.
Ende September wird Lena Sanitäterin. Sie fühlt sich nützlich, arbeitet in 24-Stunden-Schichten im Krankenhaus. Sie sieht zum ersten Mal einen Toten und wundert sich über ihre eigene Reaktion: „Ich habe überhaupt keine Angst vor den Toten. Sie tun mir nur unendlich leid.“ Sie weiß, sie selbst könnte auch bald sterben.
Stundenlang sitzen sie im Luftschutzkeller. Einmal gehen sie ins Kino.
Ihren Schwarm Wowa sieht sie nicht mehr. Sie hat nur noch eine Freundin – Tamara. Stundenlang sitzen sie zusammen im Luftschutzkeller. Einmal gehen sie ins Kino.
Es gibt noch Geld und Unterhaltung in Leningrad. Doch ihr Wert schwindet, bald sind sie wertlos, da die Grundlagen fürs Leben fehlen: Essen und Heizung. Besonders im Winter.
Und der kommt früh.
Der Winter
Seit Mitte Oktober gibt es leichten Frost, ab November dauerhaften, ab Dezember zweistellige Minusgrade und ab Jahreswechsel anhaltend bis zu -30 Grad. Die in Leningrad eingeschlossenen Menschen leiden unter extremer Kälte. Und tödlichem Hunger.
Lena stehen täglich jene 125 Gramm Brot zu. Insgesamt 600 Kalorien am Tag – sie braucht mindestens dreimal mehr.
Die Lebensmittelrationen schrumpfen weiter. Die Vorräte in der Stadt reichen nur für kurze Zeit und weitere strategische Vorräte legte die sowjetische Führung selbst nach dem deutschen Überfall nicht an. Nach der Besetzung des Eisenbahnknotenpunktes Tichwin rund 200 Kilometer südöstlich von Leningrad ist keine Versorgung der Stadt über den Ladogasee mehr möglich. Der Transport mit Flugzeugen kann den Bedarf der vermutlich zwei Millionen Stadtbewohner nicht decken. Die Stadtverwaltung reduziert die Lebensmittelzuteilungen auf den niedrigsten Stand der gesamten Blockadezeit.
Essen wird zum zentralen Thema für Lena wie im gesamten Leningrader Alltag. Die Stadt werde aus der Luft bombardiert und aus Geschützen beschossen, aber das sei noch gar nichts. Furchtbar sei, dass die Verpflegungssituation sich mit jedem Tag verschlechtere, schreibt Lena am 21. November. Ihren Geburtstag will sie heute trotzdem feiern, zumal es der erste Tag der dritten Dekade ist. Konfekt wird es auf jeden Fall geben.
„Wir werden aus der Luft bombardiert, aus Geschützen beschossen … Aber dass unsere Verpflegungssituation sich mit jedem Tag verschlechtert, das ist furchtbar.“
Doch sie hungert und verbringt den 17. Geburtstag mit Fieber im Bett. Lena stehen täglich 125 Gramm Brot zu. Zum Brot hat sie 200 Gramm Bonbons bekommen.
Essen gibt es offiziell nur noch für Lebensmittelkarten zu kaufen, jeder private Handel ist bei drakonischen Strafen wie Verlust des Arbeitsplatzes, Ausschluss aus der Partei und in schweren Fällen Zwangsarbeit verboten. Zu jenen täglichen 125 Gramm Brot stehen Lena etwas Nährmittel wie Getreide, Reis oder Nudeln, Zucker als Schokolade oder Konfekt, Fett sowie Fleisch zu. Insgesamt 600 Kalorien am Tag – sie braucht mindestens dreimal mehr.
Leningrad verändert sich stark. Es wird eine Blockade-Stadt.
Lena Muchina wohnt im Zentrum von Leningrad, in einem großen Mehrfamilienhaus am Sagorodny-Prospekt 26.
Das erste, was in der Blockade-Stadt auffällt, sind Flaks, die allerorts aufgestellt werden.
Beschuss durch die Wehrmacht nimmt zu. Vor allem Industrie und administrative Gebäuden sind Ziele der Spreng- und Zündbomben sowie der Artillerie. Allein am 8. September werden knapp 6.500 Explosionen registriert.
Bis 19. September werden rund 2000 Personen durch Beschuss verletzt oder getötet.
Am 5. Oktober trifft eine Zündbombe auch Lenas Haus. Es bricht ein Brand aus. Todesopfer werden nicht gemeldet.
Allein in den ersten zwei Blockade-Monaten haben die sowjetischen Behörden mindestens 31.570 Explosionen durch deutsche Angriffe registriert. Mindestens 3964 Verletzte und 1120 Tote wurden gemeldet.
Tote gehören nun zum Stadtbild. Nicht nur Beschussopfer, sondern auch Verhungerte und Erfrorene werden mit Wagen und Schlitten zu Sammelstellen oder Friedhöfen gebracht.
Im blockierten Leningrad dreht sich alles nur noch ums Essen.
Aka verlässt jeden Morgen das Haus und läuft mit den Marken von sich, Lena und Mama Lena von Geschäft zu Geschäft, um das ihnen zustehende Essen zu bekommen. Nicht selten kehrt sie mit leeren Händen zurück. Brot ist das wichtigste Lebensmittel − gebacken aus allem, was vorhanden ist: Malz, Gerste, Sojabohnen, Kleie, Bast von Kiefern, Birkenzweige, Zellulose. Als „Blockadebrot“ erlangt diese Backmischung traurigen Ruhm.
„Man erhitzt Wasser und löst eine ganze Platte Tischlerleim darin auf. Dann lässt man alles aufkochen und gießt es in die Teller“.
Trotz Verbots entsteht ein Schwarzmarkt mit gigantischen Preisen. Die Menschen verkaufen ihre Habe oder tauschen sie gegen Lebensmittel oder Brennholz. Lena bekommt für eine Aluminiumkanne nur 250 Gramm Brot.
In der Not kocht man auch Alternativen wie Tischlerleim statt Sülze. Lena notiert das „Rezept“ von Mama Lena: Man erhitzt Wasser, ungefähr zwei Teller voll, und löst eine ganze Platte darin auf, dann lässt man alles aufkochen und gießt es in die Teller, die man ans Fenster stellt. „Als wir um sechs Uhr morgens aufwachten, war unsere Sülze fertig. Sie schmeckte uns beiden sehr.“ Lena hält die Sülze für ungefährlich und − im Gegenteil − sehr nahrhaft.
„Er hat uns zehn Tage lang ernährt und es wäre gut, noch irgendwo eine Katze aufzutreiben. Ich hätte nie gedacht, dass Katzenfleisch so lecker und zart ist.“
Auch Haustiere werden gegessen. Lena dankt im Tagebuch ihrem Kater: „Er hat uns zehn Tage lang ernährt und es wäre gut, noch irgendwo eine Katze aufzutreiben. Ich hätte nie gedacht, dass Katzenfleisch so lecker und zart ist.“
Belegt sind auch Fälle von Kannibalismus, verzweifelte Menschen aßen das Fleisch Verstorbener. Häufiger waren jedoch Morde, um an Lebensmittelkarten zu gelangen. Lena schreibt nicht davon. Die Behörden in der belagerten Stadt lassen solche Nachrichten nicht zu.
Die ständige Unterernährung hat bald Folgen. Lena macht sich Sorgen um Mama Lena und Aka. Sie werden von Tag zu Tag schwächer. Sie bemühen sich, so wenig Energie zu verbrauchen wie möglich: nicht zu viel laufen, besser mehr sitzen und liegen. Wenn Lena lange sitzt und dann aufstehen will, muss sie ihre Muskeln sehr anstrengen. In der Nacht, wenn sie aus dem Bett auf den Nachttopf will, knicken ihre Beine ein.
Draußen versucht sie dagegen schnell zu laufen, um die nötige Entfernung in einem Zug zurückzulegen: „Wenn du deine Schritte verlangsamst, beginnen sich die Beine zu verheddern“. So geht es vielen. Und kaum noch wer gehe in den Luftschutzkeller, weil den Menschen durch die Unterernährung die Kraft für die Treppen fehlt.
Und bald erfüllt sich Lenas größte Angst: Aka stirbt am 1. Januar 1942, ihrem 76. Geburtstag.
Mama Lena fühlt sich immer schlechter. Im Februar steht sie kaum noch vom Bett auf und wenn, dann nur mit Lenas Hilfe: erst ein Bein, dann das andere. Als Lena ihre Beine berührt, ist sie entsetzt: Sie gleichen denen einer Puppe, Knochen mit Hautfetzen statt Muskeln.
Am 7. Februar 1942 vor dem Einschlafen kommt Lena zu Mama Lena und sagt: „Küss mich, Mamusja! Wir haben uns so lange nicht mehr geküsst”. Mamas strenges Gesicht wird weicher, sie schmiegen sich aneinander und weinen. „Mamotschka, liebe!“ − „Leschenka, was sind wir zwei doch für Pechvögel!“ Dann legen sie sich schlafen.
„Küss mich, Mamusja! Wir haben uns so lange nicht mehr geküsst”
Mama ruft Lena immer wieder und sagt, dass es ihr jetzt so gut, so leicht gehe, dass sie sich morgen schon viel besser fühlen werde. Nie sei sie so glücklich gewesen wie jetzt. Dann schlafen beide wieder ein.
In der Nacht wacht Lena auf, hört Mamas Schnarchen, doch es klingt, als ob in ihrem Hals etwas gurgelt. Lena stupst sie an und ruft sie. Mama öffnet die Augen und schaut Lena mit leerem Blick an. Ihre Stirn ist kalt, die Hände und die Beine − kalt, ihr Puls geht kaum. Bald beißt Mama fest die Zähne zusammen. Sie kommt nicht mehr zu Bewusstsein. Sie stirbt still. Sie entschwindet.
Lena lädt mit der Hausmeisterin die Leiche von Mama Lena auf einen Schlitten und schafft sie auf dem selben Weg fort, auf dem sie vor einem Monat noch mit Mama Lena Aka weggebracht hat: zur Maratstraße 76, einer der Sammelstellen für Leichen.
Lena schreibt später, dass sich davor eine lange Schlittenschlange mit Toten gebildet hat. Auf manchen Schlitten liegen zwei oder drei Leichen.
Dort im Innenhof werden die Toten gesammelt und registriert. Dann bringen Lkw sie zum Wolkowo-Friedhof. Obwohl man sie im Winter nicht gleich begraben kann. Denn der gefrorene Boden ist zu hart.
Im ersten Blockade-Winter sterben bis zu 250.000 Menschen − eine Viertelmillion.
Der Frühling
Allein geblieben, zieht Lena zu ihrer Schulfreundin Galja und deren Vater. Die empfangen sie mit offenen Armen, doch der Hunger bleibt. Die Versorgung wird sehr langsam etwas besser, Lena hungert nun bei 300 Gramm Brot am Tag.
Parallel mit dem Umzug kümmert sich Lena nun auch um ihre Flucht: Sie sehnt sich nach familiärer Nähe und hat Verwandte in Gorki, die sie gern aufnehmen wollen. Sie hofft auf Evakuierung aus der belagerten Stadt.
Sie überwindet ihre Einsamkeit, hört sich bei Bekannten und Fremden um, organisiert erfolgreich ihr Leben. Das Zimmer in der Kommunalka meldet sie ab, verkauft die Möbel und registriert sich offiziell bei Galja. Sie bekommt Zugang zu einer Spezialkantine mit besserem Essen. Sie verbringt ganze Tage in der Warteschlange vor der Registrierung zur Evakuierung – mehrfach erfolglos, weil der Andrang die verfügbaren Plätze übersteigt.
Bereits am 7. Dezember 1941 kann die Rote Armee Tichwin zurückerobern.
Bis Mitte Dezember drängt sie die deutschen Truppen hinter den Fluss Wolchow zurück.
Per Bahn und über den Ladogasee im Osten Leningrads sind nun wieder Transporte und Evakuierungen möglich. Die Brotrationen in der Stadt steigen leicht.
Diese „Straße des Lebens“ aber wird eineinhalb Jahre lang die einzige Versorgungs- und Evakuierungsmöglichkeit nach und aus Leningrad bleiben. Täglich kommen durchschnittlich rund 4000 Tonnen nach Leningrad − davon knapp die Hälfte Lebensmittel, ein Drittel Energieträger. Bis April 1942 werden mehr als eine halbe Million Menschen über das Ladoga-Eis evakuiert.
Am 17. Januar 1942 beschließt die Sowjetführung die Evakuierung der Zivilbevölkerung Leningrads, eine Woche später erreicht der erste Zug mit Evakuierten Wologda. Bei der Auswahl der zu Evakuierenden legten die Behörden keine humanitären Maßstäbe an, sondern gingen nach Nutzen für den Krieg und Loyalität der Menschen gegenüber dem Sowjetsystem vor.
Lena Muchina gehört als Waise zu keiner der bevorzugten Kategorien.
Doch Millionen nicht Evakuierten stehen noch zwei weitere harte Blockade-Winter in Leningrad bevor, die Hunderttausende von ihnen nicht überleben werden.
Im Januar 1943 kann die Rote Armee einen Landkorridor nach Leningrad am Südufer des Ladogasees freikämpfen, scheitert aber mit dem Versuch, die Wehrmacht weiter zurückzudrängen.
Erst im Januar 1944, nach 872 Tagen, beendet der Vormarsch der Roten Armee die Blockade der Stadt Leningrad.
Der Frühling bringt Sonne und Wärme nach Leningrad. Das erleichtert den Menschen das Überleben, aber lässt auch das Eis auf dem Ladogasee tauen. Lena muss auf Schiffsverkehr für die Zivilbevölkerung warten.
Indes steigen die Lebensmittelrationen weiter leicht an. Die Straßenbahnen fahren und Schulen öffnen wieder. Leben kehrt zurück in die geschundene Stadt: Lena denkt an bessere Kleidung, geht ins Kino, trifft sogar Wowka wieder. Und ist erschüttert: Er hat sich sehr verändert, ist ganz ausgemergelt, völlig unterernährt.
Zugleich setzen die Deutschen ihre Bombardierungen und Artilleriebeschuss fort. Lena fürchtet, nun doch noch sterben zu müssen.
Anfang Juni 1942 verlässt Lena Muchina Leningrad.
Doch sie übersteht das Frühjahr. Und bald werden auch sozial Schwächere und Einzelpersonen wie sie eine Chance auf Evakuierung bekommen.
Anfang Juni 1942 verlässt Lena Muchina Leningrad.
Ihr Tagebuch endet am 25. Mai 1942 − mit Essen. Mittlerweile in dritter Person − sie träumt von der Schriftstellerei − schreibt sie, wie sich Lena am Abend eine Brennesselsuppe kocht.
Für Lena Muchina endet die Blockade im Sommer 1942. Sie entrinnt der unmittelbaren Lebensgefahr durch den Krieg und zieht zu ihrer Tante nach Gorki.
Contributors
- Drehbuch und Text: Gero Fedtke und Peggy Lohse
- Illustrationen: Anja Che
- Animationen: Victoria Spiryagina und Philipp Yarin
- Redaktion: Leonid A. Klimov
- Karten: Artyom Schtschennikow
- Design: village one
- Übersetzungen der Zitate von Lena Muchina aus dem Russischen: Lena Gorelik, Gero Fedtke und Peggy Lohse
- Veröffentlicht: 11. September 2024
- In Kooperation mit der Gedenkstätte für die Opfer des KZ Langenstein-Zwieberge