DerKriegUndSeineOpfer
Siebte Folge: Missbrauchte Körper
Auf sanften, grasbedeckten Hügeln nahe einer kleinen Stadt in der Westukraine steht eine Frau und zeigt in verschiedene Richtungen: „Dort standen Menschen, fast nackt. Hier haben sie geweint, geschrien. Sie warteten auf den Tod. Die Deutschen und die Polizei brachten sie dorthin, um sie zu erschießen. Genau dort fielen sie in die Gruben, als man sie erschoss.“
Diese Frau ist Klara Krytschewska, geborene Tkatsch. Die Einheimischen nannten sie Haika. Genau hier liegen wahrscheinlich die sterblichen Überreste ihrer Eltern, Schwestern und Brüder. Klara Krytschewska erzählt von den letzten Momenten im Leben ihrer jüdischen Verwandten, Freunde und Nachbarn.
Außerdem wird sie zur Stimme jener Mädchen, die wie sie während der Massaker vergewaltigt wurden. Ohne ihre Aussagen hätte nie jemand erfahren, was sich in jener Nacht abspielte.
Neue Besatzer, neue Regeln
Die Stadt Bar liegt 90 Kilometer südöstlich von Chmelnyzky im Westen der Ukraine. Die jüdische Gemeinde der Stadt ist eine der ältesten in der Ukraine, erstmals erwähnt im Jahr 1542. In Bar gab es eine große Synagoge und ein jüdisches Krankenhaus. Die jüdische Schule wurde am Vorabend des Krieges durch die sowjetischen Behörden geschlossen. In der Stadt lebten außerdem Ukrainer∙innen, Russ∙innen und Pol∙innen. Sie alle hatten eigene Kirchen, Klöster und Schulen.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten in Bar knapp 4.000 jüdische Menschen – knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde ein Teil der jungen Männer, darunter auch Juden, zur Roten Armee eingezogen. Andere wurden gen Osten evakuiert: vor allem der Parteiapparat, Funktionäre und wichtige Arbeiter, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Unter den evakuierten Arbeitern befanden sich 350 Juden.
Die sowjetischen Behörden sahen in der jüdischen Gemeinde keine besonders gefährdete Gruppe
Die sowjetischen Behörden sahen in der jüdischen Gemeinde keine besonders gefährdete Gruppe, sodass sie keine gesonderte Evakuierung organisierten. Viele Menschen konnten die Stadt nicht verlassen: Es fehlte an Transportmitteln und die Eisenbahnlinie lag erst etwa fünf Kilometer vor der Stadt. Wie viele Menschen genau in der Stadt verblieben, ist unbekannt. Bekannt ist nur, dass unter ihnen etwa dreitausend Juden und Jüdinnen waren.
Zu ihnen gehört auch die Familie der damals 15-jährigen Klara Tkatsch. Ihr Vater, Hersch Tkatsch, besitzt zwei Pferde und einen Wagen. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, verschiedene Dinge auf Bestellung zu transportieren. Die Mutter Syslja führt den Haushalt und kümmert sich um die Kinder. Klara hat noch sieben Geschwister: Essja (die Älteste), Ioska, Dora, Naum, Sonja und die Zwillinge Schmuel und Motel. Sie leben in ihrem eigenen Haus und halten eine Kuh und Schweine.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 stößt die Wehrmacht schnell ins sowjetische Hinterland vor. In der Ukraine operiert die Heeresgruppe Süd unter dem Kommando von Gerd von Rundstedt.
Die Wehrmacht wird von ungarischen, italienischen, rumänischen und slowakischen Truppen unterstützt.
Am 1. Juli bombardiert die ungarische Luftwaffe Bar und bereitet so die folgende Offensive der Wehrmacht vor. In der Stadt werden mehrere Gebäude zerstört.
Am 16. Juli 1941 rücken Einheiten der 17. Armee der Wehrmacht in Bar ein.
Bald darauf stoßen die deutschen Truppen weiter in Richtung Uman und dann Dnipropetrowsk vor.
Die deutschen Besatzer überführen große Teile der Ukraine von der Militär- in die Zivilverwaltung und errichten das Reichskommissariat Ukraine.
Die südlichen Landesteile werden an Rumänien abgetreten und teilweise unter rumänische Militärverwaltung gestellt.
Die Stadt Bar liegt an der südlichen Grenze des Reichskommissariats, hier markiert durch den Fluss Riw, und wird zum Verwaltungszentrum des Kreisgebiets Bar im Generalbezirk Wolhynien und Podolien, ganz in der Nähe des von Rumänien besetzten Gebiets.
Bar wird bis zum 25. März 1944 unter deutscher Besatzung bleiben.
Nach der Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht am 16. Juli 1941 wächst die Zahl der deutschen Besatzer, nicht zuletzt aufgrund der administrativen Bedeutung der Stadt. Gebietskommissar wird Franz Schwarz, Hans Eberle sein Stellvertreter und Richard Schulz wird Chef der deutschen Gendarmerie. Doch die Deutschen brauchen auch die Hilfe lokaler Einwohner∙innen und finden diese.
Der örtliche Chef der Hilfspolizei
In Bar bilden die Deutschen eine zivile Lokalverwaltung, an deren Spitze der ehemalige Lehrer Wolodymyr Koliwepryk steht, sowie eine Hilfspolizei für das Gebiet Bar. Diese wird von dem 37-jährigen Ukrainer Hryhorii Andrussiw geleitet. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in einem Haus auf dem Gelände der Zuckerfabrik in Bar. Vor dem Einmarsch der Deutschen hat Andrussiw dort die fabrikeigene Feuerwehr und Wachmannschaft geleitet.
Historischen Quellen zufolge warnt Andrussiw manchmal Bewohner∙innen vor dem Abtransport zur Zwangsarbeit in Deutschland, sodass die Gewarnten noch entkommen können. Seine Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung ist grausam: Mehrmals versammelt er Juden und Jüdinnen auf dem Marktplatz, hält sie dort fest, droht ihnen, sie zu erschießen, um schließlich Gold als Lösegeld zu verlangen.
Die meisten Juden aus Bar und den umliegenden Dörfern werden bereits im Dezember 1941 ins Ghetto zwangsumgesiedelt. Das Ghetto ist mit Stacheldraht umzäunt. Die Bedingungen dort sind hart. Es ist überfüllt, die Hygiene ist schlecht, Krankheiten verbreiten sich. Jüdinnen und Juden dürfen kein Eigentum mitnehmen, manche bitten ihre christlichen Nachbarn, es in ihrer Abwesenheit zu hüten. Auch Lebensmittel sind knapp, gleichzeitig ist es verboten, Essen zu suchen oder zu organisieren. Dafür braucht es eine Sondergenehmigung, oder man besticht die Wachen. Für Kinder ist es leichter, das Ghetto zu verlassen. Die Eltern geben ihnen dann alle kleinen Wertsachen mit, die sie irgendwie beibehalten haben: Uhren, Tücher, Küchenutensilien, um sie gegen Brot, Kartoffeln und anderes einzutauschen. Manchmal kommen auch Einheimische – Ukrainer∙innen, Pol∙innen oder Russ∙innen – zum Ghetto, um Lebensmittel im Tausch gegen Wertgegenstände anzubieten.
Klara kennt Andrussiw und sieht ihn oft in ihrem Haus. Ihr Vater arbeitet als Fahrer für die Hilfspolizei und bekommt von Andrussiw häufig Anweisungen und Aufträge. Zu Beginn der deutschen Besatzung bewahrt die Arbeit des Vaters die Familie vor der Umsiedlung ins Ghetto, aber diese Ausnahme ist von kurzer Dauer.
Mord im Sommer
Für alle jüdischen Familien gilt: Jeden Tag muss jeder Haushalt mindestens ein Mitglied zur Zwangsarbeit stellen. Da es an Männern mangelt, werden auch Jugendliche ab 12 Jahren und älter genommen. Die örtliche Polizei und die Deutschen führen die Zwangsarbeiter∙innen dann mit Hunden zum Arbeitsort – Zuckerfabrik, Sägewerk oder Felder.
Jeden Tag muss jeder Haushalt mindestens ein Mitglied zur Zwangsarbeit stellen
Die jüdischen Arbeiter∙innen werden geschlagen und bei kleinster Zuwiderhandlung erschossen. Klara, ihre Mutter und ihre Schwestern werden nicht zur Arbeit getrieben, da ihr Vater arbeitet.
Eines Tages im August 1942 geht Klaras ältere Schwester zu ihren Verwandten ins Ghetto, um Getreide zu mahlen. Dort gerät sie in eine Falle.
In der Stadt Bar richteten die Besatzungsbehörden drei Ghettos für die jüdische Bevölkerung ein.
Eines in der ehemaligen Scholom-Aleichem-Straße (heute Sankt-Nikolaus-Straße) in der Nähe der Synagoge.
Ein Zweites zwischen der Straße des 8. März, der Komsomol-Straße und der Kooperatiwna-Straße.
Ganz in der Nähe ist das dritte Ghetto am Stadion. Jenes Ghetto bleibt lange unangetastet, dort lebten Handwerker, denen der Judenrat besondere Genehmigungen ausstellte.
In den frühen Morgenstunden des 19. August 1942 umstellen Gendarmerie und örtliche Polizei und einigen Berichten zufolge auch die Wehrmacht zwei der drei Ghettos.
Die Jüdinnen und Juden werden aus ihren Häusern vertrieben und zum Stadion eskortiert. Die Schwachen, Alten und Kinder werden auf Karren zum Stadion gebracht. Auch Klaras Vater fährt einen Karren.
Es heißt, man werde sie alle in ein Arbeitslager deportieren, darum solle man alle Wertsachen, Dokumente und Schaufeln mitnehmen.
Der Fahrer Hersch Tkatsch beobachtet, wie die jungen und gesunden Menschen im Stadion von den Kindern, Alten, Kranken und Behinderten getrennt und in unfertige Baracken gebracht werden. Danach werden einige von ihnen ins Ghetto zurückgebracht, während andere in Arbeitslager im Bezirk Bar geschickt werden.
Die Übrigen werden zur Frunse-Kolchose gebracht, damals zwei Kilometer nordwestlich von Bar kurz vor dem Dorf Harmaky.
Klaras ältere Schwester Essja, 21 Jahre alt, gerät durch Zufall in die Gruppe jener, die hingerichtet werden sollen. Sie wird mit anderen Ghettobewohner∙innen zum Stadion gebracht und muss dort mehrere Stunden ausharren. Sie beobachtet, wie die Juden aufgefordert werden, all ihre Wertgegenstände in speziell vorbereitete Säcke zu werfen.
Wer sich weigert, wird geschlagen, manche direkt erschossen. Frauen werden die Ohrringe von den Ohren gerissen.
Die Jüd∙innen werden in Kolonnen aufgeteilt und aus der Stadt geführt, in die Nähe des jüdischen Friedhofs. Am Vortag hatten Anwohner der umliegenden Dörfer, oder anderen Quellen zufolge Kriegsgefangene, fünf Gruben entlang der Straße zum Dorf ausgehoben.
Essja findet sich in einer dieser Kolonnen wieder. Sie sieht, wie Menschen in einer Senke erschossen werden
Essja findet sich in einer dieser Kolonnen wieder. Sie sieht, wie Menschen in einer Senke erschossen werden. Zuerst werden sie gezwungen, sich auszuziehen und die Kleidung von Männern, Frauen und Kindern auf getrennte Haufen zu legen. Um Patronen zu sparen, werden die Kinder einfach ihren Eltern entrissen und in die Gruben geworfen.
Unter jenen, die auf den Tod warten, wählen die Deutschen und die Polizei noch einmal Junge und Gesunde zur Zwangsarbeit aus. Im letzten Moment hat Essja Glück – und wird dieser Gruppe zugewiesen.
Sie werden dann zurück ins Ghetto eskortiert. Am Morgen auf Lastwagen verladen und zum Bahnhof gebracht, von dort zur Zwangsarbeit in die Nachbarstadt Letytschiw. Doch Essja flüchtet sich am Bahnhof auf die Toilette und versteckt sich dort, bis der Zug abfährt. Dann kehrt sie nach Hause zurück und erzählt ihrer Familie, was sie gesehen hat und wie sie entkommen konnte.
Es ist die erste antijüdische „Aktion“ in Bar und eine der größten in der Region.
Zehn Stunden lang erschießen die Deutschen und die lokale Polizei ihre Opfer mit Maschinengewehren
An einem Tag erschießt die Sicherheitspolizei (Sipo) und der Sicherheitsdienst (SD) mit Hilfe der ukrainischen Polizei hier insgesamt 1742 Menschen.
Die Schüsse und das Weinen und Schreien sind weit über den Tatort hinaus zu hören. Zehn Stunden lang erschießen die Deutschen und die lokale Polizei ihre Opfer mit Maschinengewehren.
Die Berichte von Essja und ihrem Vater über die Erschießungen erschüttern Klara. Von nun an ist die Angst ihr täglicher Begleiter.
„Der Rest wird erschossen“
Am 14. Oktober 1942 wird Klaras Vater unerwartet auf die Polizeiwache gerufen. Er setzt seinen 14-jährigen Sohn Ioska auf seinen Karren und fährt mit ihm zur Polizeistation. Dort befiehlt Andrussiw ihm und anderen Fuhrleuten, in ein Nachbardorf zu fahren, vorgeblich, um Bier abzuholen.
Klara sieht ihren Vater und Bruder nie wieder.
Am Abend desselben Tages kommt ein Polizist, Fedir Wassjukowsky, zu Klaras Haus und warnt sie, dass für den nächsten Morgen wieder eine „Aktion“ geplant sei. „Der Rest der Juden im Ghetto wird erschossen“, versichert er und rät, sich ein Versteck zu suchen.
„Die ganze Nacht konnten wir nicht schlafen, denn wir waren voller Sorge und Angst“, erinnert sich Klara später. Ihre Mutter versteckt indes die Kleinsten – den dreijährigen Naum und die siebenjährige Dora – in einer Nische zwischen Ofen und Wand, hinter Ziegelsteinen. Sie sagt Klara und Essja, dass sie als Älteste dem Tod entkommen müssten. Wer überleben sollte, müsse sich dann um Dora und Naum kümmern.
In der Morgendämmerung des 15. Oktober 1942 sieht Klara durch ihr Fenster Fackeln im Ghetto brennen. Einheiten der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes aus Kamjanez-Podilsk waren zusammen mit der örtlichen ukrainischen Polizei angerückt. Im Ghetto hallen Schreie und Klagen.
Aus dem Versteck auf dem Dachboden sieht Klara, wie die Polizei ihre Mutter, ihre Schwester Sonja und ihre Brüder Schmuel und Motel aus dem Haus holt und sie in Richtung Ghetto abführt
Klara und Essja versuchen sich zu retten. Essja rennt zum Haus ihrer Nachbarin Jewfrossynija, Klara versteckt sich auf dem Dachboden der Nachbarin Maria. Von dort aus sieht sie, wie die Polizei ihre Mutter, ihre Schwester Sonja und ihre Brüder Schmuel und Motel aus dem Haus holt und sie in Richtung Ghetto abführt. Dora und Naum finden die Polizisten nicht.
Immer mehr Bewohner∙innen werden aus ihren Häusern getrieben. Man fordert sie auf, warme Kleidung mitzunehmen. Dann bilden sie eine Kolonne mit sechs Personen pro Reihe. Man erzählt ihnen, dass sie in die Region Cherson geschickt würden, um dort landwirtschaftliche Siedlungen zu gründen und brach liegendes Land zu bebauen. Tatsächlich bringt man sie an den Ortsausgang in Richtung Iwaniwzi, nördlich von Bar.
In der Zwischenzeit entdeckt die Nachbarin Maria die versteckte Klara auf ihrem Dachboden und schickt sie weg, weil sie befürchtet, selbst verhaftet zu werden, weil sie eine Jüdin versteckt. Klara kehrt zurück in ihr Haus und nimmt Dora und Naum mit zum Fluss, der damaligen Grenze zu dem von Rumänien besetzten Gebiet. Dort verstecken sie sich im Schilf.
Doch schon bald entdecken sie zwei Einheimische. Die wollen sie der Polizei übergeben, aber der Nachbar Hryhorii setzt sich für die Kinder ein. Er gibt ihnen Brot und versteckt sie. Am Abend durchkämmt die Polizei erneut die Stadt nach versteckten Jüdinnen und Juden. Die Kleinen finden die Polizisten nicht.
Klara schon.
Folter „zum Vergnügen“
Am Morgen des 16. Oktober öffnen Polizisten die Zellentür, wo Klara am Abend mit Dutzenden anderen jüdischen Menschen eingesperrt worden war, und befehlen herauszutreten. Alle Gefangenen werden an den nördlichen Stadtrand eskortiert. Dort entdeckt Klara auf der Wiese mehrere lange Gruben. In zweien sieht man die Leichen der am Vortag erschossenen Menschen, bedeckt mit einer dünnen Schicht Erde. An den anderen töten die Deutschen und die örtliche Polizei weiter. Andrussiw ist auch dabei.
In Gruben sieht Klara die Leichen der am Vortag erschossenen Menschen, bedeckt mit einer dünnen Schicht Erde
In der Nähe des Erschießungsortes hört Klara das unaufhörliche Weinen, Schreien und Stöhnen von Männern und Frauen, Alten, Verwundeten und Sterbenden. Es hallen Schüsse. Blut fließt in Strömen. Sie selbst weint und verabschiedet sich vom Leben und wartet auf den nahenden Tod.
Klara und die anderen Jüd∙innen werden gezwungen, sich auszuziehen. Sie gehorcht.
Während der Hinrichtung sagt ein Deutscher zu Andrussiw, man müsse „noch 20 junge Frauen zur Vergnügung behalten“. Unter jenen, die noch nicht erschossen wurden, werden 16 junge Frauen und Mädchen ausgewählt. Klara ist eine von ihnen.
Unter jenen, die noch nicht erschossen wurden, werden 16 junge Frauen und Mädchen ausgewählt. Klara ist eine von ihnen
Sie müssen sich wieder anziehen. Die Polizei bringt sie von den Gruben zurück in die Stadt in ein zweistöckiges Gebäude in der Nähe der Staatsbank. Dort müssen sie sich erneut auszuziehen, diesmal bis auf die Unterwäsche. Dann sollen sie auf ihre „Gäste“ warten.
Mit einer solchen „Feier“ begehen die deutschen Besatzer ihre „erfolgreich“ abgeschlossene Aufgabe der Judenvernichtung: An diesen zwei Tagen werden etwa 1500 Menschen erschossen. Auch lokale Helfer, die das Vertrauen der Deutschen und wichtige Positionen besitzen, sind häufig Gäste solcher Veranstaltungen. Polizeichef Andrussiw ist einer von ihnen. Am Abend kommt er mit Koliwepryk und anderen Deutschen zum Haus, in dem die Mädchen festgehalten werden.
Andrussiw bringt Klara in eines der Zimmer und vergewaltigt sie auf dem Bett.
Nach der Vergewaltigung verlässt Andrussiw das Zimmer.
Langsam zieht sich auch Klara an und geht hinaus in den Korridor.
Dort spricht sie ein Fremder an, der bei der Polizei als Stallbursche arbeitet. Er warnt sie, dass alle Mädchen erschossen werden. Doch er habe eine Tochter in Klaras Alter und wolle ihr helfen.
Der Mann bringt das Mädchen in einen Lagerraum und versteckt sie unter Säcken und Lumpen. Sie müsse nur still sein. Spät in der Nacht kehrt er zurück und bringt Klara zum Fluss Riw, wo die Polizei sie kürzlich gefunden hatte. Dort findet sie auch Dora und Naum wieder. Sie geht mit ihnen zur Nachbarin, bei der sich ihre Schwester Essja versteckt hält. Gemeinsam überqueren sie den Fluss und gelangen in das Nachbardorf Balky.
Das steht unter rumänischer Besatzung, hier ist es für Juden leichter zu überleben.
Alle vier suchen Unterschlupf bei verschiedenen Menschen, sowohl jüdischen als auch nicht-jüdischen. Sie betteln um Almosen. Ziellos kommen sie durch Städte wie Kopaihorod, Scharhorod, Shmerynka. Schließlich werden sie von jüdischen Familien aufgenommen, Flüchtlingen aus Bessarabien und der Bukowina, die in dieses Gebiet zwangsumgesiedelt wurden.
Klara hat einen Nervenzusammenbruch und verliert 12 Zähne
Das Leben ist nicht leicht für die Kinder, die nun unter der Obhut der ältesten Schwester Essja stehen, besonders zu Beginn, da sie mit dem Verlust ihrer Eltern und der erlebten Gewalt klarkommen müssen.
Klara hat einen Nervenzusammenbruch und verliert 12 Zähne. Eine Zeitlang kann sie nicht mehr sprechen oder stottert so stark, dass man sie nur schwer verstehen kann.
Auf der Suche nach Gerechtigkeit
Am 25. März 1944 marschiert die Rote Armee in Bar ein. Damit endet die deutsche Besatzung. Klara und ihre Geschwister kehren in ihre Heimatstadt zurück.
Doch die Nachbarn haben ihr Haus zerlegt und sich den Besitz angeeignet. Auch ihr Feld wird nun von Nachbarn bewirtschaftet, die den Mädchen drohen: Wenn ihr wagt, hier etwas anzupflanzen, erstechen wir euch mit der Gabel.
Wenn ihr wagt, hier etwas anzupflanzen, erstechen wir euch mit der Gabel
Also müssen sie eine Wohnung mieten. Klara bekommt Arbeit in einer Textilfabrik. Sie heiratet, doch die Ehe geht nicht gut. Bald lässt sie sich von ihrem Mann scheiden und bleibt mit ihrem Kind allein.
Nach dem Krieg ist ihre Heimatstadt eine andere. Sie vermisst ihre Familie. Viele bekannte Gesichter sind verschwunden: Freund∙innen, Nachbar∙innen, Lehrer∙innen, Ärzt∙innen, Handwerker. Sie alle wurden getötet. Viele Häuser wurden zerstört.
Doch auch die Täter sind weg: Einige starben, andere sind entkommen oder wurden verurteilt und ins Gulag geschickt. Klaras Peiniger Andrussiw ist ebenfalls verschwunden. Als sich die sowjetischen Truppen der Stadt nähern, wird ihm klar, dass er bestraft werden wird. Also flieht er nach Rumänien und ändert seinen Namen in George Andruchiw und findet Arbeit bei der Eisenbahn. Im Mai 1964 geht er in Rente und arbeitet als Lagerverwalter einer Kolchose.
Etwa zur gleichen Zeit kommen ihm die sowjetischen Behörden auf die Spur. Andrussiw wird verhaftet und an die Ukrainische Sowjetrepublik ausgeliefert. Die Ermittlungen leitet der KGB aus Winnyzja, der Prozess finden in Bar statt, dem Ort seiner Verbrechen.
Klara ist Hauptzeugin und Geschädigte zugleich. Sie wird zu vielen Befragungen vorgeladen und Andrussiw gegenübergestellt, der behauptet, sie nie getroffen zu haben. Sie sagt, „dass er lügt“.
Nun steht eine erwachsene 39-jährige Frau vor ihm und nicht das Mädchen, das er vor mehr als zwanzig Jahren vergewaltigt hat.
Klara erzählt detailliert von den Ereignissen Mitte Oktober 1942 und bezeugt die Wahrheit ihrer Aussagen
Klara erzählt detailliert von den Ereignissen Mitte Oktober 1942 und bezeugt die Wahrheit ihrer Aussagen. Eine von den Ermittlern angeordnete gerichtsmedizinische Untersuchung in einer örtlichen Klinik bestätigt: „Klara hat Angststörungen, weint oft und stottert und hat Albträume. Dies sind Folgen dessen, was sie erlitten hat.“
Trotzdem bringt man Klara an den Ort der Hinrichtungen, wo die Überreste ihrer Eltern, Schwestern und Brüder höchstwahrscheinlich begraben sind. Klara steht über den kleinen, mit Gras bewachsenen Hügeln und zeigt, wo die Menschen standen, wohin die Deutschen und die Polizei sie brachten, wie sie in die Gruben fielen und wie sie erschossen wurden.
Es ist nicht leicht für Klara, doch sie erträgt den langen Prozess der Ermittlungen und bekräftigt ihren Wunsch, vor Gericht auszusagen.
Im Oktober 1966 beginnt der dreitägige Prozess gegen Andrussiw. Er wird zu einer Art Triumph für die sowjetischen Behörden, die sich damit brüsteten, endlich einen Nazi-Kollaborateur gefasst zu haben, den sie über 20 Jahre lang gesucht hatten.
Der Zweck des Prozesses ist nämlich auch ein ideologisch-politischer
Der Zweck des Prozesses ist nämlich auch ein ideologisch-politischer. Die Behörden nutzen ihn für eine Propagandakampagne gegen eine wachsende Dissidentenbewegung im Land. So bezeichnen sie alle Abweichler als „ukrainische bourgeoise Nationalisten“ und „Hitlers Handlanger“. Andrussiw passt ihnen perfekt ins Schema. Er wird zum Symbol des Verrats, schuldig am Leid des „einfachen sowjetischen Volkes“.
In diesem Sinne ist Klaras Geschichte für die Behörden nützlich. Sie trägt dazu bei, das Bild des „absolut Bösen“ zu vervollständigen, das auch bereit ist, Kinder zu vergewaltigen.
Und Klara will ihre Gerechtigkeit. Sie sagt öffentlich, dass sie zu den 16 Mädchen gehörte, die „zum Vergnügen“ ausgewählt wurden. Die Details berichtet sie im nicht-öffentlichen Teil des Prozesses.
Sie beendet ihren Auftritt mit den Worten: „Ich bitte das Gericht, Andrussiw zum Tod durch Erschießen zu verurteilen.“
Andrussiw wird auch schuldig gesprochen, Klara vergewaltigt und sexuelle Gewalt gegen andere jüdische Mädchen organisiert zu haben.
Er wird hingerichtet.
Wir wissen nicht, was mit Klara nach dem Prozess geschah.
Contributors
- Drehbuch und Text: Marta Havryshko und Peggy Lohse
- Illustrationen: Anja Che
- Animationen: Victoria Spiryagina und Philipp Yarin
- Redaktion: Leonid A. Klimov
- Übersetzung ins Deutsche: Simon Muschick
- Karten: Artyom Schtschennikow
- Design: village one
- Veröffentlicht: 4. Dezember 2024