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Erinnerung und Streit um den Zweiten Weltkrieg

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Wie erinnert man sich in Deutschland an den Zweiten Weltkrieg – und wie in anderen europäischen Ländern? Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg in Russlands Krieg gegen die Ukraine heute – wie wird Erinnerungspolitik hier und da diskutiert? Und wie kann man das Kriegsgedenken heute neu denken?

Wie erinnert man sich in Deutschland an den Zweiten Weltkrieg?

Lange Zeit herrschte in Deutschland ein Erinnerungskonsens über den Zweiten Weltkrieg, der von breiten gesellschaftlichen Schichten getragen wurde. In dessen Zentrum stand das Gedenken an die Millionen ziviler Opfer, insbesondere die sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Auschwitz wurde stellvertretend für die vielen anderen Konzentrations- und Vernichtungslager zum Negativ-Symbol des nationalsozialistischen Quälens und Mordens in Europa.

Der Fokus lag auf der Anerkennung der deutschen Schuld an den Verbrechen der NS-Zeit und auf der daraus resultierenden Verantwortung im Umgang mit den Nachbarländern sowie den Minderheiten in Deutschland. Dieses universelle Gedenken, in der Wissenschaft auch als „kosmopolitische Erinnerung“ bezeichnet, war nicht an nationale Grenzen geknüpft. In der Weltpolitik diente es als moralischer Kompass. 

In jüngster Zeit geriet dieser Erinnerungskonsens ins Schwanken. Zum Einen haben sich im Zuge des Aufstiegs der rechten Partei AfD die Grenzen des Sagbaren deutlich verschoben. „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, behauptete beispielsweise der ehemalige AfD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland und relativierte damit die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Doch dieser Satz aus dem Jahr 2018 ist nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich verwendet die AfD im Bundestag häufiger als andere Parteien Begriffe rund um den Zweiten Weltkrieg. Die AfD nutzt historische Bezüge, um die eigene politische Agenda zu rechtfertigen, etwa in der Kritik einer vermeintlichen Radikalisierung in einem multikulturellen Deutschland, in der Relativierung der NS-Verbrechen oder in der Hetze gegen linke Parteien.

Zum Zweiten – losgelöst von dem Aufstieg der AfD – wird spätestens seit 2021 der deutsche (oder allgemeiner: der westliche) Blick auf den Holocaust zunehmend durch postkoloniale Ansätze in Frage gestellt. Zum Beispiel haben die Forscher Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer in einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit gefordert, dass die Erinnerung an die NS-Verbrechen „multidirektional“ werden müsse. Man solle mit dem vermeintlichen Tabu brechen, den Holocaust mit anderen Gräueltaten zu vergleichen. In ihren Augen ist die Gewalt des Holocaust eine Fortsetzung der weltweiten kolonialen Gewaltgeschichte, also von den Verbrechen verschiedener europäischer Länder bei der Entdeckung und Eroberung Afrikas, hauptsächlich im 19. und 20. Jahrhundert, wobei die Anfänge bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen. 

Mit dieser Haltung sind die beiden Forscher nicht allein: In einer polemischen Schrift kritisierte etwa der australische Historiker und Genozidforscher Dirk Moses die Auffassung von der Einzigartigkeit des Holocausts, bezeichnet sie gar als deutsche „Zivilreligion“. 

Solche Forderungen berühren ganz unmittelbar das deutsche historische Selbstverständnis und führen zu verbitterten Debatten, gerade angesichts aktueller Kriege in Osteuropa und Nahost.

Wie unterscheiden sich die Erinnerungskulturen?

Die Erinnerungskultur in Deutschland unterscheidet sich deutlich von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in anderen Ländern, vor allem in Ostmitteleuropa und in vielen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Der grundsätzliche Unterschied: Während in Deutschland die Erinnerung bis heute eher täter-opfer-zentriert ist, dominieren dort oft Erzählungen vom heroischen Widerstand. Dies spiegelt sich besonders an öffentlichen Erinnerungsorten wie Gedenkstätten und Museen wider. Auf der Halbinsel Westerplatte bei Gdańsk in Polen etwa, wo am 1. September 1939 der erste Schuss des Zweiten Weltkriegs fiel, steht heute der heldenhafte Widerstand einer kleinen polnischen Garnison im Mittelpunkt. Auf ähnliche Weise steht das Heldentum der Polnischen Heimatarmee im Zentrum des Museums des Warschauer Aufstands. In beiden Fällen werden die Opfer zu Helden stilisiert, während eine kritische Auseinandersetzung mit den Kosten des Widerstands ausgeblendet wird.

Entsprechend unterschiedlich sind auch die Themen der Erinnerung. In Ostmitteleuropa steht der heldenhafte Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft im Vordergrund. In Russland und Belarus betont man noch heute – nach sowjetischem Duktus – den siegreichen Kampf gegen den Faschismus, der den Vielvölkerstaat vermeintlich einte. In Spanien wird die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg vom Bürgerkrieg (1936-39) und der anschließenden franquistischen Diktatur überschattet. In Frankreich und Großbritannien gilt als „Großer Krieg“ der Erste Weltkrieg (1914-1918), der in beiden Ländern deutlich mehr Opfer forderte als der Zweite Weltkrieg.

Zwischen Ost und West besteht eine gewisse Konkurrenz der Erinnerung: Im Westen steht Auschwitz weiter für den totalitären Terror, in manchen osteuropäischen Ländern werden Versuche unternommen, die Herrschaft Stalins und die von der Sowjetunion bestimmte Zeit bis 1989/91 als ebenso totalitär anzuerkennen. Die Forderungen, die eigenen Gewaltregime-Erfahrungen vor 1941 (wie Holodomor in der Ukraine 1932/33 oder sowjetische Besatzung Polens und der baltischen Staaten) sowie nach 1945 in den Kanon der europäischen Erinnerungskultur aufzunehmen, haben jedoch wenig Erfolg in Westeuropa. 

Indes haben dort seit den 90er Jahren insbesondere deutsche Intellektuelle gefordert, dass das deutsche Paradigma der „Vergangenheitsaufarbeitung“ zum Leitbild der europäischen Integration werden und auch in Ostmitteleuropa umgesetzt werden sollte. Angesichts der grundlegenden Unterschiede in der historischen Perspektive ist es jedoch kaum verwunderlich, dass diese Initiativen östlich der Oder wenig Anklang finden.

Welche Rolle spielt der Zweite Weltkrieg im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine?

Geschichtliche Analogien spielen vor allem in der Rechtfertigung des russischen Krieges gegen die Ukraine eine wichtige Rolle. Neben der berühmt-berüchtigten Behauptung Putins, in der Ukraine seien Nazis an der Macht, versucht der Kreml, den Krieg durch patriotische Appelle mit historischen Bezügen als Notwendigkeit der heutigen Verantwortung Russlands zu rechtfertigen. Der scheinbare Konsens in der heutigen russischen Gesellschaft über die Wahrnehmung des „Großen Vaterländischen Krieges“ erklärt, warum der Kreml neben der politischen Nostalgie für die Sowjetzeit auch an den Kampf der Roten Armee gegen den europäischen Faschismus appelliert.

Die Betonung der historischen Kontinuität mit dem Zweiten Weltkrieg birgt für den Kreml jedoch auch Risiken. Eine narrative Verknüpfung mit dem Einmarsch und langen Krieg in der Ukraine untergräbt gleichzeitig die Glaubwürdigkeit eines der wichtigsten Referenzpunkte des postsowjetischen russischen Identitätsnarrativs. Yevgenia Albats betonte nach der Enthüllung des Massakers von Butscha im April 2022: „Der Mythos vom Befreier, der das wichtigste Element unserer Selbstidentifikation war, der die Wurzel der nationalen Erinnerung bildete, wird vollständig zerstört werden – unabhängig davon, ob man ein Anhänger des Regimes war oder nicht.“ 

Aber auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky bedient sich häufig historischer Analogien. In seinen Reden auf internationaler Bühne versucht Selensky, eine Erinnerungsgemeinschaft zwischen der Ukraine und ihren westlichen Partnern herzustellen. Dieses Element ist für die Teilhabe der Ukraine an der europäischen Geschichte relevant. Insbesondere im ersten Jahr des vollumfänglichen Kriegs verwendete Selensky den moralischen Imperativ des „Nie wieder“, um für Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland zu werben. So beispielsweise im März 2022 im Bundestag: „Es ist schwer, die Ukraine zu verteidigen, Europa zu verteidigen. Ohne das, was Sie tun können. Was Sie tun können, um nicht auch nach diesem Krieg beschämt zurückzublicken … Nachdem Charkiw zerstört wurde. Zum zweiten Mal, nach 80 Jahren. Nachdem Tschernihiw, Sumy und der Donbas zerbombt wurden. Zum zweiten Mal, nach 80 Jahren. Nachdem Tausende von Menschen gefoltert und getötet wurden. Zum zweiten Mal, nach 80 Jahren. Denn was bedeutet sonst die historische Verantwortung für das, was vor 80 Jahren geschah, was bis heute gegenüber dem ukrainischen Volk nicht gesühnt wurde?“

Genauso, nur mit russländischen Ortsnamen, argumentieren in Deutschland indes auch jene gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien, die die militärische Unterstützung der Ukraine ablehnen. Indem sie Russland mit der Sowjetunion gleichsetzen definieren sie „Nie wieder“ als ein „Nie wieder deutsche Geschosse auf sowjetisches/russisches Gebiet“ – egal zu welchem Preis, auch wenn es einen souveränen Staat und seine Bevölkerung die Existenz kosten könnte.

Gibt es um den Zweiten Weltkrieg einen Wettstreit?

Ja. Die Bezugnahme auf den Zweiten Weltkrieg und der Streit über den richtigen Umgang mit ihm sind regelmäßig Teil der weltpolitischen Spannungen. Ein anschauliches Beispiel sind die Entwicklungen im Umgang mit dem symbolisch wichtigen Gedenktag des 27. Januar der letzten zwei Jahre. An diesem Tag befreite im Jahr 1945 die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, und im Jahr 1944 endete die Blockade Leningrads

Seit 2005 ist der 27. Januar der von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In jüngster Zeit gibt es vermehrt Bestrebungen in Russland und Belarus, den Völkermord an den europäischen Juden und die Leningrader Blockade in eine Kontinuitätslinie zu stellen.

Gleichzeitig wurde als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kein Vertreter des russischen Staates mehr zu den offiziellen Feierlichkeiten am 27. Januar nach Auschwitz eingeladen. In den Reden zum Jahrestag 2023 und 2024 wird die Befreiung durch Russland bzw. die Sowjetunion – je nach Sprecher – dem Krieg in der Ukraine gegenübergestellt. Mit solchen Versuchen, die Erinnerungsnarrative zu verschieben, wird ein Kernelement des russischen Selbstverständnisses in Frage gestellt. 

Dann heißt es beispielsweise in der russischen Presse: „Wir Russen können immer noch nicht glauben, dass uns das Banner des Sieges aus den Händen gerissen und den ukrainischen Nazis übergeben wird.“ Also versucht man auf russischer Seite, die Befreiung von Auschwitz als Beleg für die Selbstlosigkeit der heutigen russischen Armee zu nehmen: „Schließlich haben wir Auschwitz nicht befreit, weil es zu unserem Vorteil war, sondern weil es die historische Mission unseres Volkes war, für Gerechtigkeit einzutreten. Erinnern Sie sich, wie in der Bibel: Einer von zehn Geheilten kam zurück, um Christus zu danken.“

Auch als Reaktion auf diese Entwicklung hat der Kreml im Jahr 2024 einen neuen Gedenktag eingerichtet und in der Oblast Leningrad ein „Mahnmal für die Zivilisten der UdSSR, den Opfern des nazistischen Genozids der Jahre des Großen Vaterländischen Krieges“ eingerichtet. Die Leningrader Blockade wird von Russland seit 2024 als Genozid bezeichnet und der Kreml fordert, dass Deutschland dies entsprechend anerkennt. Gegenwärtig wird die Blockade als Kriegsverbrechen eingeordnet. 

Russland eignet sich in dieser Situation dann selbst die Sprache der Dekolonialisierung an und wirft der deutschen Seite einen „widersprüchlichen Umgang“ mit der Vergangenheit vor. Man beklagt die einseitige Dekolonialisierung, da deutsche Verbrechen aus der Kolonialzeit als Völkermord anerkannt seien, die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Völker der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg hingegen nicht.

Wie nehmen Jugendliche den Krieg wahr?

Schauen wir einmal in die jüngste MEMO-Jugendstudie. Diese Daten zeigen ein hohes Interesse an der NS-Geschichte und den Wunsch junger Menschen, bestehende Wissenslücken zu schließen. Darüber hinaus suchen deutsche Jugendliche nach Verbindungen zwischen der aktuellen politischen Gegenwart und der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und insbesondere dem Zweiten Weltkrieg wird von ihnen mehrheitlich als wichtig erachtet. 

Diese Studie betont: 

1. Das Interesse und die Auseinandersetzung mit dem Krieg unter jungen Menschen ist höher als in der Allgemeinbevölkerung.

2. Ein deutlich geringerer Teil der Jugendlichen versteht nicht, warum man sich heute noch mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen sollte.

Eine Studie des ZOiS dagegen zeigt, dass die Zeit des Nationalsozialismus mit den Jahren eher seltener als das wichtigste Ereignis der deutschen Geschichte angesehen wird. An erster Stelle nannten die Befragten hier, weitestgehend unabhängig vom Alter, die Wiedervereinigung oder den geschichtlichen Beitrag, den Deutschland zur europäischen Integration geleistet hat. 

Es scheint somit, dass der Zweite Weltkrieg schrittweise an den Rand der Bühne der Geschichte tritt. Trotz eines hohen Interesses an dem Thema rücken andere Ereignisse vermehrt ins Rampenlicht.

Wie kann man den Zweiten Weltkrieg neu denken? 

Mit fast 80 Jahren Abstand zum Kriegsende verschwindet die Kenntnis konkreter historischer Tatsachen aus der familiären Erinnerung. In der deutschen Gesellschaft besteht zwar weiterhin ein Bewusstsein dafür, dass ein breiter Teil der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus unter den Tätern war und auch Sympathien mit der NS-Ideologie hatte. Diese Täter und Mitläufer werden jedoch kaum mehr als Teil der eigenen Familiengeschichte gesehen. Danach gefragt, ob eigene Vorfahren Täter oder Sympathisanten waren, gibt nur noch ein kleiner Teil der jüngeren Befragten eine bejahende Antwort.

In der post-migrantischen Gesellschaft stellen sich darüber hinaus komplizierte Fragen zur Relevanz des Zweiten Weltkriegs als Fluchtpunkt der westlichen Erinnerung. Geflüchtete und Migrant·innen bringen häufig eigene Gewalterfahrung aus ihren Heimatgebieten und von den Fluchtrouten mit. Diese Gewalterfahrung ist im Regelfall unmittelbarer, da selbst erlebt. Auch für diese Erfahrungen muss im gesellschaftlichen Diskurs ein Platz gefunden werden, wobei gleichzeitig in Deutschland die Erwartung vorherrscht, dass sich auch Neuankömmlinge mit dem historischen Fundament des Zweiten Weltkriegs zu identifizieren haben. Somit stellt sich die drängende Frage, wie man die historische Gewalt des Zweiten Weltkriegs und die Anerkennung der Opfer von damals in Beziehung setzen kann zu den gegenwärtigen Kriegen und ihren Opfern – ohne dass dies in Konkurrenzdenken über Anerkennung und Opferhierarchien mündet.

Eine besondere Rolle beim aktuellen Wandel der Erinnerungskultur spielen sicherlich die Sozialen Medien. Einerseits gewinnt der historische Krieg auf diesen Plattformen neue Aktualität. Andererseits kann man eine gesteigerte Relevanz des Zweiten Weltkrieges für die Interpretation der aktuellen Kriege beobachten: Geschichtliches Bildmaterial wird oft mit gegenwärtigem vermischt, was ohne das fehlende Kontextwissen völlig neue Möglichkeiten eröffnen, mit Geschichte umzugehen. Aber auch, um diese zu missbrauchen.

Text: Félix Krawatzek
Redaktion: Peggy Lohse und Leonid A. Klimov
Bildredaktion: Andy Heller
Veröffentlicht am 02. Dezember 2024

„Der Krieg und seine Opfer“ ist ein Projekt von dekoder, in Kooperation mit der Universität Heidelberg.

Universität Heidelberg

Ein Projekt der Bildungsagenda NS-Unrecht

Gefördert durch

auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages