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Kontext/

Holocaust in der Sowjetunion

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Wie kam es zum Holocaust?

Das ist eine schwierige Frage, zu der viele Artikel und Bücher geschrieben wurden. Und eine abschließende Antwort gibt es nicht. Einerseits gibt es Antisemitismus, oder die Feindschaft gegen alles Jüdische, in Europa seit vielen Jahrhunderten. Und immer wieder nahm dieser gewaltsame und brutale Formen an. Doch der Antisemitismus allein reicht nicht aus zur Erklärung des Holocaust. Denn der Holocaust war mehr als eine gewaltsame Feindschaft: es ging um die systematische Auslöschung mehrerer Millionen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit – durch Giftgas, wie in Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Treblinka, oder auch durch Massenerschießungen.

Der Holocaust hat seinen Ursprung am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich der Antisemitismus deutlich veränderte. In dieser Zeit richtete er sich einerseits gegen den sozialen Aufstieg, den die jüdischen Schichten vom Rande der Gesellschaft her erlebt hatten. Andererseits aber auch gegen die negativen Erscheinungen der Moderne, für die die Juden verantwortlich gemacht wurden. Dazu gehören etwa der angebliche Sittenverfall, die Verdrängung des Kleinwarenhandels durch Kaufhäuser oder die Dominanz des Finanzkapitals. Auch die kommunistische Bewegung und vor allem die bolschewistische Herrschaft in der Sowjetunion wurde als „jüdisch“ angesehen. Radikale Antisemiten glaubten sogar an eine Verschwörung des vermeintlichen „Weltjudentums“, das eine globale Herrschaft errichten wolle.

Diese Feind-Vorstellungen gab es (und gibt es bis heute) in verschiedenen Ländern. Doch der Antisemitismus breitete sich in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich stark aus.

In Deutschland kam mit der NSDAP 1933 eine radikal antisemitische Partei an die Macht, die die Akzeptanz breiter Teile der Bevölkerung genoss. Sie zerstörte den Rechtsstaat und damit auch jeglichen Schutz für Minderheiten, darunter vor allem für Juden und Jüdinnen. Und sie war zu uneingeschränkter Gewalt bereit − nicht nur in den Konzentrationslagern sondern auch in den besetzten Ländern. Im Zweiten Weltkrieg ab 1939 ließen die deutschen Eroberer die letzten Hemmungen fallen und überzogen besonders Osteuropa systematisch mit massiver Gewalt.

Welche Rolle spielte dabei der Angriff auf die Sowjetunion?

Die deutsche Verfolgungspolitik gegen Jüdinnen und Juden fängt bereits 1933 an, und Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung finden im besetzten Polen bereits seit 1939 statt. Doch mit dem Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 steigerten sie sich zur systematischen Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung in Europa.

Der Krieg NS-Deutschlands gegen die Sowjetunion richtete sich nicht nur gegen die Rote Armee, sondern gegen das ganze Sowjetsystem sowie den vermeintlichen „jüdischen Bolschewismus“. Die Nationalsozialisten sahen in jüdischen Gemeinschaften die Basis der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion. Die Täter nahmen deshalb an, dass die Sowjetunion politisch und militärisch schneller zusammenbrechen würde, wenn sie die jüdische Bevölkerung ermordeten.

Auch die deutsche Kriegsführung und Besatzungsherrschaft hatten sich 1941 im Vergleich zu 1939 verändert. Die Führung der Wehrmacht verabschiedete sich vollends vom internationalen Kriegsvölkerrecht und begrüßte die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im Hinterland. Denn das deutsche Militär verfügte nicht über genügend Kräfte, um den riesigen eroberten Raum hinter der Front allein unter Kontrolle zu halten. Aber auch die Wehrmachtführung selbst organisierte massive Kriegsverbrechen wie die Ermordung angeblich gefährlicher Kriegsgefangener oder das Aushungern gefangener Rotarmisten.

Schließlich führte die massenhafte Ermordung von Juden und Jüdinnen in den besetzten sowjetischen Gebieten zur sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ für das gesamte von NS-Deutschland beherrschte Gebiet in Europa − also die lückenlose, systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Einflussgebiet der Nationalsozialisten.

Wie sah die jüdische Bevölkerung dort 1941 aus?

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in der Sowjetunion etwa drei Millionen Menschen „jüdischer Nationalität“, wie es dort hieß. Als Stalin 1939/40 im Westen wider geltenden Völkerrechts Gebiete der baltischen Staaten, Ostpolens und des rumänischen Bessarabien besetzen ließ, kamen weitere zwei Millionen Jüdinnen und Juden ohne sowjetische Vorgeschichte hinzu. Gerade diese Menschen aus den annektierten Gebieten stellten später mehr als die Hälfte der Holocaust-Opfer. Dabei kann man sie nur schwerlich als „sowjetische Juden“ bezeichnen.

Unter Stalins Herrschaft in der Sowjetunion konnten Juden und Jüdinnen zwar auch in Verwaltung und Staatswirtschaft Karriere machen, in der Mehrheit waren sie jedoch von Enteignungen betroffen und mussten im staatlichen Handel und Handwerk arbeiten. Die traditionellen jüdischen Gemeinden als Religionsgemeinschaften waren in der Sowjetunion abgeschafft, jüdische Interessenvertretungen oder gar Parteien gab es nicht mehr. In den annektierten Gebieten bestanden jedoch oft alte Sozialbeziehungen weiter, in manchen Kleinstädten machten Juden und Jüdinnen über 50 Prozent der Bevölkerung aus.

Bis zum Kriegsbeginn 1939 war in der sowjetischen Öffentlichkeit durchaus bekannt, dass die jüdische Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland sehr schlecht behandelt wurde. Nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 hörte diese kritische Berichterstattung auf. Lediglich Flüchtlinge aus dem deutsch-besetzten Teil Polens berichteten von den dortigen Verfolgungen.

So war die Mehrheit der Menschen nicht vorgewarnt, als die Deutschen im Juni 1941 einmarschierten. Sowjetische Behörden evakuierten in der Regel nur Staats- und Wirtschaftskader, auch jene jüdischer Nationalität. Von den insgesamt 4,1 Millionen jüdischen Menschen in jenen Gebieten, die von der deutschen Wehrmacht besetzt wurden, konnten etwa 1,3 Millionen flüchten, sich evakuieren oder, als Männer, noch rechtzeitig zur Roten Armee einziehen lassen.

Wie entwickelte sich die deutsche Vernichtungspolitik?

Hitler und die deutsche Führung hatten einen Krieg geplant, der in nur drei Monaten zur Niederlage der Roten Armee führen sollte. Deshalb gab es zunächst anscheinend keine umfassenden Vorgaben zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Deutsche Einheiten von SS und Polizei, vor allem die berüchtigten Einsatzgruppen, sollten zunächst vor allem die „jüdische Intelligenz“ ermorden sowie alle Männer im militärfähigen Alter von etwa 18 bis 40 Jahren. Zugleich sollten mit lokalen antikommunistischen Milizen örtliche Pogrome ausgelöst werden.

Nach einigen Wochen begannen jedoch einzelne Mordkommandos damit, auch Frauen und Kinder zu erschießen. Je weiter sie nach Osten vordrangen, desto öfter löschten sie ganze jüdische Gemeinschaften aus. So wurden beispielsweise Ende September 1941 33.000 Menschen in Babyn Jar in Kyjiw erschossen.

Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung lebte im Herbst 1941 noch, da die Mordkommandos im Sommer 1941 schnell weitergezogen waren. Erst im Herbst und Winter 1941 verübten die Besatzer auch in großen jüdischen Gemeinden weiter westlich, so in Wilna oder Riga, umfassende Mordaktionen. Nur die Facharbeitskräfte, die Zwangsarbeit leisten mussten, blieben am Leben. In Belarus und der Ukraine wurden zwischen Frühjahr und Herbst 1942 nahezu alle jüdischen Gemeinden ausgelöscht. Lediglich in Ostgalizien (Westukraine) und manchen baltischen Orten dauerte das Morden bis Mitte 1943. Kleine Gruppen wurden in Konzentrationslager nach Westen deportiert.

Wie reagierte die jüdische Bevölkerung auf die Verfolgung?

In den ersten Wochen des deutschen Krieges war die jüdische Bevölkerung von der tödlichen Bedrohung weitestgehend überrascht, oft wurden die Opfer noch getäuscht, indem man ihnen eine Umsiedlung vorspiegelte. Nur einzelne Gruppen machten sich auf eigene Faust auf die Flucht vor der herannahenden Wehrmacht.

Mit der Besetzung saß die jüdische Bevölkerung in der Falle. Nach der Ermordung der jüdischen Männer wurden die meisten Familien, zumindest im Westteil der besetzten Gebiete, in Ghettos umgesiedelt. Dort mussten die Erwachsenen dringend Arbeit finden, um so hoffentlich nicht für die nächste Mordaktion ausgewählt zu werden.

Erste Untergrundgruppen bildeten sich Anfang 1942. Sie bereiteten die Flucht aus dem Ghetto und schließlich auch Widerstandsaktionen vor. Tatsächlich kam es im Herbst 1942 zu einigen kleineren Ghetto-Revolten. Das Hauptziel blieb jedoch die Flucht, die in der Regel nur in den Waldgebieten des Baltikums oder in Belarus möglich war. Dort konnten sich Jugendliche lokalen Partisanengruppen anschließen. Es gab auch „Familienlager“ in den Wäldern, sie wurden aber oft entdeckt und ausgelöscht. Anders als in Polen gelang es hier nur wenigen Verfolgten, in Verstecken oder mit falscher Identität unterzutauchen. Nur wenige Zwangsarbeitskräfte wurden 1943/44 nach Westen deportiert und hatten dort, in deutschen Lagern, eine etwas größere Chance zu überleben.

Wie reagierte die Mehrheits­gesellschaft auf die Gewalt?

Auch die Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung war von der extremen Gewalt der Besatzer überrascht, nicht wenige hatten den Einmarsch der Deutschen zunächst begrüßt. Trotz des Entsetzens über die – anfangs auch öffentlich praktizierte – Gewalt, schälten sich bald unterschiedliche Haltungen heraus.

Vor allem in den Gebieten, die die Sowjetunion 1939/40 im Westen annektiert hatte, existierten starke antisemitische Strömungen, etwa bei den antikommunistischen Untergrundorganisationen wie dem litauischen „Eisernen Wolf“ oder der Organisation ukrainischer Nationalisten. In einigen Regionen kam es nach dem deutschen Einmarsch im Sommer 1941 zu regelrechten Pogromen.

Auch andernorts arrangierte sich die Bevölkerungsmehrheit bald mit den Besatzern und passte sich an deren antisemitische Politik an. Die jüdische Minderheit wurde nicht nur in Ghettos isoliert, sondern auch zunehmend sozial stigmatisiert. Die Verfolgten mussten ständig Denunziationen fürchten.

Nach den Mordaktionen versuchten viele Einheimische, vom Raub jüdischen Eigentums zu profitieren, freilich beschlagnahmte die Besatzungsmacht die wertvollen Güter, es blieben jedoch oft Wohnungen, Inventar oder Kleidung übrig. Die verbliebenen einheimischen Institutionen, vor allem Kommunalverwaltungen und Hilfspolizei, kooperierten nicht nur in der antijüdischen Politik, sondern auch bei den Massenmorden. Die einheimischen Polizisten nahmen oft an Massenerschießungen teil und sorgten dafür, dass Menschen in Verstecken aufgespürt und ermordet wurden.

Die Kirchen in der Sowjetunion, die von den Deutschen wieder zugelassen wurden, nahmen ebenso wie die sowjetische Untergrundbewegung eine ambivalente Haltung zum Holocaust ein, nur einige unterstützen die Verfolgten. Freilich ist der Beitrag jener tausender Personen zu würdigen, die unter Lebensgefahr den Juden und Jüdinnen halfen oder sie versteckten.

Wie veränderte der Holocaust die Sowjetunion?

Das Gesicht der Sowjetunion, besonders im Westen des Landes, hatte sich für immer verändert. An manchen Orten war durch die deutschen Massenmorde die Hälfte der Bevölkerung verschwunden. 95 Prozent jener Juden und Jüdinnen, die unter deutsche Besatzung geraten waren, verloren ihr Leben – insgesamt etwa 2,6 bis 2,7 Millionen Menschen.

Erheblich waren auch die Folgen für Wirtschaft, Bildung und Gesundheitswesen, weil Jüdinnen und Juden in all diesen Bereichen eine wichtige Rolle gespielt hatten. Anders als in anderen von Deutschland besetzten Ländern verschwanden die jüdischen Gemeinschaften durch den deutschen Massenmord jedoch nicht völlig aus der Sowjetunion. Nach 1944 kehrten Evakuierte und Geflüchtete zurück und versuchten, das jüdische Leben wieder in Gang zu setzen.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde der Holocaust durchaus auch in der sowjetischen Öffentlichkeit thematisiert, die Überlebenden konnten an den Tatorten des Massenmordes Denkmäler errichten. Dies alles änderte sich jedoch ab 1947/48: Die Kriegserinnerung wurde aus dem öffentlichen Raum verdrängt, das spezifische Schicksal der jüdischen Bevölkerung zusehends nivelliert.

Mit der sogenannten Anti-Kosmopolitismus-Kampagne ab 1948 kam es zu einer regelrechten antisemitischen Treibjagd in der Sowjetunion. Auch in der begrenzten Liberalisierung der späten 1950er und 1960er Jahre wurde der Holocaust kaum erwähnt. In der offiziellen Erinnerung hieß es, die Vernichtungspolitik NS-Deutschlands hätte sich gegen das sowjetische Volk gerichtet, nicht speziell gegen Jüdinnen und Juden.

Erhebliche Teile der jüdischen Bevölkerung wanderten seit den 1970ern aus, vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Text: Prof. Dr. Dieter Pohl
Bildredaktion: Andy Heller
Veröffentlicht am 14. Februar 2024

„Der Krieg und seine Opfer“ ist ein Projekt von dekoder, in Kooperation mit der Universität Heidelberg. “The war and its victims” is a project by dekoder, in cooperation with the University of Heidelberg.

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