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NS-Verbrechen vor Gericht. Teil I: Die Siegermächte

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Haben alle NS-Verbrecher ihre gerechten Strafen bekommen?

Obwohl das Dritte Reich nur relativ kurze Zeit – von 1933 bis 1945 – bestand, sind in diesen 12 Jahren so viele NS- und Kriegsverbrechen begangen worden, dass sich damit mehrere hohe Gerichte in mehreren Ländern über mehrere Jahrzehnte beschäftigten. Zum Teil bis heute.

Diese juristische Aufarbeitung hatte jeweils unterschiedliche Schwerpunkte sowie rechtliche und politische Besonderheiten.

Zehntausende Täter wurden tatsächlich angeklagt und bestraft. Doch diese große Zahl an Urteilen heißt weder, dass die Mehrheit der Täter bestraft wurde, noch dass jene teils hart Bestraften wirklich in allen Fällen Täter waren, die am stärksten belastet sind. Außerdem war das Bestrafen konkreter Personen nicht immer das einzige Ziel der juristischen Aufarbeitung. Ein komplexes Thema also. Wir versuchen das auseinanderzunehmen.

Was waren die Nürnberger Prozesse?

Nürnberg steht symbolhaft für die internationale juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. In der Tat fanden in Nürnberg mehrere Prozesse statt. Der erste und wohl bekannteste begann im November 1945 – etwa ein halbes Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Hier mussten sich zunächst die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, also die politische Führung des Deutschen Reiches und ein Teil der militärischen Elite des NS-Regimes, vor dem Internationalen Militärgerichtshof verantworten: unter anderem Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Leiter des Vierjahresplans, und Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen, sowie Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht.

Die zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse (1946-1949) richteten sich dann gegen Personen aus den Reihen der NS-Funktionseliten wie Ärzte und Juristen, wirtschaftliche und militärische Repräsentanten sowie Organisatoren der Verbrechen in den Ministerien. Insgesamt wurden 185 Personen angeklagt. Von diesen wurden 25 zum Tode verurteilt, darunter KZ-Ärzte und Führer der SS-Einsatzgruppen. Aber nur zwölf Todesurteile wurden vollstreckt. Mehr als die Hälfte der Angeklagten, wie z.B. die Generäle Erhard Milch und Wilhelm List, bekamen teils lebenslängliche, teils hohe Haftstrafen. 35 Angeklagte wurden freigesprochen.

Besonders glimpflich kamen oft die angeklagten Wirtschaftsmanager davon. Im Prozess gegen führende Angestellte der I.G. Farben erhielt beispielsweise Otto Ambros, der als Geschäftsführer für den Einsatz von Auschwitz-Häftlingen zur Zwangsarbeit in den Bunawerken verantwortlich war, zwar eine Haftstrafe von acht Jahren (und damit eine der höchsten Strafen in den Nürnberger Prozessen gegen Industrielle), wurde aber bereits 1951 entlassen.

Einigen Tätern gelang es auszuwandern, andere begingen – wie Hitler, Goebbels und Himmler – vor der Ergreifung durch die Alliierten Selbstmord. Einige nahmen sich – wie Hermann Göring – nach der Verurteilung bzw. in der Haft das Leben.

Auch wenn die Nürnberger Prozesse die berühmtesten NS-Kriegsverbrecherprozesse sind, wurden hier nur die Fälle von ingesamt 209, wenngleich oft hochrangigen Angeklagten verhandelt. Neben diesen Verfahren fanden in den Jahren 1945-1953 weitere, oft kleinere Prozesse gegen insgesamt 90.000 bis 100.000 deutsche und österreichische NS- und Kriegsverbrecher in Europa statt. Davon kamen mehrere tausend Verfahren vor deutsche Gerichte.

Etwa ein Viertel der Prozesse fand in der Sowjetunion bzw. vor sowjetischen Gerichten in der sowjetischen Besatzungszone statt.

Wie liefen Kriegsverbrecherprozesse in der Sowjetunion ab?

Die ersten sowjetischen Prozesse gegen NS-Verbrecher und einheimische Kollaborateure fanden bereits während des Krieges statt. Die bekanntesten Verfahren in Krasnodar und Charkiw 1943 behandelten eine Bandbreite von Verbrechen, die in den Regionen begangen worden waren. Hier stand nicht explizit die Ermordung der jüdischen Gemeinden im Mittelpunkt. Die Tötung der lokalen jüdischen Bevölkerung aus Charkiw im Dezember 1941 beispielsweise wurde als Tötung von „friedlichen Sowjetbürgern“ bezeichnet.

Thematisiert wurden dagegen insbesondere der Einsatz von Gaswagen und die Tötung von Kommunist·innen, Komsomolz·innen, Partisan·innen, sowjetischen Kriegsgefangenen, aber auch beispielsweise der Patient·innen der Beresansker Psychiatrischen Kolonie im Gebiet Krasnodar. Im September 1942 ermordete die Einsatzgruppe D hier 320 Heimbewohner·innen. Bereits in diesem frühen Verfahren zeigten sich die Besonderheiten der sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse, die später charakteristisch sein sollten: die überproportionale Bestrafung eigener Bürger und die ideologische Prägung mancher Urteile.

Zwischen 1941 und 1956 wurden insgesamt 70.000 bis 72.000 Deutsche von sowjetischen Gerichten verurteilt, darunter fallen mindestens 26.000 Urteile gegen deutsche Kriegsgefangene und deutsche Zivilist·innen als Kriegs- und NS-Verbrecher.

Die wissenschaftliche Bewertung der sowjetischen Ermittlungen und Strafverfahren fällt insgesamt durchwachsen aus. Einerseits sind in den ersten Verfahren, darunter auch den siebzehn großen Demonstrationsprozessen in den Hauptstädten der Sowjetrepubliken bzw. Oblastzentren von 1945-1947, durchaus tatsächliche Täter wie beispielsweise der Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln bestraft worden. Andererseits sind insbesondere die nicht öffentlichen Sammel- und Schnellverfahren gegen etwa 16.000 deutsche Kriegsgefangene in den Jahren 1949-50 sowie die Urteile der Sonderausschüsse (OSO-Urteile) mit großer Vorsicht zu betrachten. Bei letzteren handelt es sich um Fernurteile, die durch ein Sonderkonsilium des NKWD in Moskau verhängt wurden – ohne Anhörung von Zeugen oder einem Verhör des Angeklagten.

Dies ist der eklatanteste Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit durch die sowjetische Justiz. Viele deutsche Angeklagte berichteten auch über Folter und Misshandlungen während der Ermittlungen (Folter wurde erst nach dem Tod Stalins im April 1953 in der Sowjetunion offiziell verboten). Andere Rechte der Angeklagten wie das auf effektive Verteidigung oder die Beweislastregel in dubio pro reo (Im Zweifel für den Angeklagten) wurden nicht immer gewahrt.

Besonders charakteristisch für die juristische Aufarbeitung in der Sowjetunion ist die extrem große Zahl der Anklagen und Urteile gegen eigene Bürgerinnen und Bürger: Unionsweit wurden in den Jahren 1943-1953 etwa 320.000 bis 500.000 Bürger·innen der UdSSR wegen Kollaboration und Vaterlandsverrat verurteilt. Allein in der Ukrainischen Sowjetrepublik verhaftete der NKWD bis zu Stalins Tod 1953 fast 95.000 vermeintliche oder tatsächliche lokale Kollaborateure.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es mehr einheimische als deutsche Täter gab. Das zeigt nur, dass die Sowjetunion, wie auch andere von den Deutschen besetzte Staaten, von Beginn an ein breites Spektrum an Tätern, potentiellen Tatbeteiligten und Kollaborateuren bestrafte. Hierbei war es, anders als in Deutschland, oft nicht von Belang, ob das Gericht nachweisen konnte, dass ein Angeklagter an konkreten Verbrechen beteiligt gewesen war. Es genügte die Mitgliedschaft in einer Einheit wie der lokalen Polizei.

Wie stand die Sowjetjustiz zu eigenen NS-Überlebenden?

Die Asymmetrie zwischen der Bestrafung von Kollaborateuren und deutschen Verantwortlichen ist zwar ein europaweites Phänomen, in der Sowjetunion ist sie jedoch besonders stark ausgeprägt und die Verurteilten werden besonders hart bestraft. In der Oblast Kalinin (heutige Oblast Twer in Zentralrussland) wurde beispielsweise in den ersten beiden Kriegsjahren 1941/42 jeder zweite wegen Landesverrat zum Tode verurteilt. Darunter zum Beispiel eine Frau, die als Putzkraft für einen deutschen General gearbeitet hatte. In einem Prozess in der ukrainischen Stadt Mikolajiw im Jahr 1967 wurden alle elf Angeklagten des Selbstschutzes, einer lokalen Bürgerwehr, aus dem Dorf Rastatt (heute: Poritschtschja) wegen der Beteiligung an der Ermordung von 50.000 Juden und Jüdinnen im Konzentrationslager Bogdanowka zum Tode verurteilt. Die Ermittlungen gegen Klaus Siebert, den stellvertretenden Leiter des Sonderkommandos R und damit ihr reichsdeutscher Vorgesetzter, in der Bundesrepublik verblieben ohne Erfolge.

Ein besonderes Kapitel stellen die Repressionen gegen Hunderttausende sowjetische Bürger·innen dar, die als Zwangsarbeiter·innen in Deutschland oder als Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge in deutschen Lagern gewesen waren. Zwar werden nicht alle Personen aus diesen Gruppen zu Haftstrafen verurteilt, aber viele werden über einen längeren Zeitraum in Filtrationslagern festgehalten, zur Zwangsarbeit herangezogen oder in ihrer Wahl von Wohnort, Studium oder Beruf benachteiligt.

Besonders stark von Repressionen betroffen sind sowjetische Offiziere, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, so auch der Anführer des sowjetischen Widerstands in Auschwitz-Birkenau, Alexander Lebedew, oder Nikolaj Nowodarow. Diese müssen sich sechs Jahre in Verbannung in sogenannte Sondersiedlungen begeben – dieses Schicksal trifft etwa sieben Prozent der vom NKWD überprüften Offiziere.

Hauptziele der sowjetischen Prozesse waren – neben der Vergeltung – Abschreckung und die politisch-pädagogische Erziehung des Publikums.

In der Sowjetunion wurden bis in die 1960er Jahren alle Kollaborateure, die einen Menschen erschossen, also eigenhändig getötet hatten, wie deutsche Haupttäter behandelt – sie bekamen einen Prozess und erhielten oft die Todesstrafe. Es wurden auch Personen verurteilt, die möglicherweise nicht oder nicht in dieser Form an den Verbrechen beteiligt gewesen waren.

Wie lief die juristische Aufarbeitung bei den Westalliierten ab?

Neben der Sowjetunion trugen den Großteil der strafrechtlichen Aufarbeitung von deutschen Verbrechen die westlichen Alliierten: also die USA, Großbritannien und Frankreich. Aber auch so unterschiedliche Staaten wie die Tschechoslowakei, die vom Deutschen Reich annektiert worden war, und Österreich, das Teil des Deutschen Reichs gewesen war, leisteten einen zahlenmäßig großen Beitrag.

Die westalliierten Besatzungsmächte organisierten u.a. in verschiedenen Städten Prozesse gegen KZ-Personal. Oft handelte es sich hierbei um die konkreten Konzentrationslager, die vor Ort bestanden hatten. Die Briten führten beispielsweise ein Strafverfahren zum KZ Neuengamme durch, aber auch zu Ravensbrück, das in der sowjetischen Besatzungszone lag. Daneben ahndeten die Alliierten häufig Verbrechen an eigenen Staatsbürgern, wie die britischen und amerikanischen Fliegerprozesse zu Lynchmorden an abgeschossenen, aber überlebenden Piloten oder der Oradour-Prozess in Bordeaux 1953 zeigen.

Der direkte Vergleich zwischen den europäischen Anstrengungen, das NS-Unrecht zu sühnen, ist kaum möglich. Zum einen sagen die absoluten Zahlen nichts darüber aus, wie prominent oder hochrangig die Verurteilten waren oder wie gut die Ermittlungen durchgeführt wurden. Zum anderen sind in einigen Ländern – wie auch der Sowjetunion, der sowjetischen Besatzungszone und der DDR – politische Säuberungsverfahren in den Statistiken eingerechnet.

Wie sah die Zusammenarbeit zwischen den Ländern aus?

Es gab auch nach Nürnberg eine Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen, beispielsweise zwischen der israelischen Polizei und den westdeutschen Staatsanwaltschaften. Schwieriger war die Kooperation über den Eisernen Vorhang hinweg. Diese wurde nicht vollumfänglich ausgenutzt, aber auch nicht vollständig vertan.

Wie kompliziert die Kooperation im Kalten Krieg verlief, kann man am Beispiel der Bundesrepublik und der Sowjetunion sehen. Zu Beginn behinderte die westdeutsche Seite die Aufnahme des Rechtshilfeverkehrs mit der Sowjetunion aus Angst vor Propaganda und vor einem Autonomieverlust – „das Ausland“ sollte nicht bestimmen dürfen, wen man strafrechtlich verfolgte und wen nicht.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gab es Bemühungen, die Kooperation voranzubringen. Hier rächte sich jedoch der Umstand, dass die sowjetischen Justiz- und Ermittlungsorgane, der KGB und die Staatsanwaltschaft der UdSSR, mit vergleichsweise wenig Ressourcen diese Mammutaufgabe angingen. Dadurch wurde das sowjetische Beweismaterial oft zu spät eingebracht. Die sich verkomplizierende westdeutsche Rechtsprechung tat ihr Übriges: So wurde Friedrich Schmidt, Chef der Geheimen Feldpolizei Ost in Winnyzja, zwar durch die sowjetische Rechtshilfe als mutmaßlicher Täter für die Erschießung von mehr als 3000 Juden im April 1942 identifiziert, die Ermittlungen gegen Schmidt jedoch 1972 von der Staatsanwaltschaft München I eingestellt.

Das schiere Ausmaß und die Schwere der durch das NS-Regime verübten und ermöglichten Verbrechen stellten die betroffenen Staaten vor eine große Herausforderung. Die meisten reagierten darauf, indem sie neue Gesetze für die Bestrafung dieser Verbrechen entwarfen. Dabei hatten sie die Bedürfnisse ihrer Gesellschaft, die unter der Besatzungsherrschaft gelitten hatte, im Blick – dieser war oft die Verurteilung der lokalen Kollaborateure genauso wichtig wie die der deutschen Haupttäter.

Die Sowjetunion, wenig zimperlich im Umgang auch mit potentiellen oder gar nur imaginierten Feinden, wollte umso weniger, dass die Schuldigen ungestraft davonkommen. Die sowjetischen Ermittlungen zu den deutschen Tätern verfolgten oft einen vielversprechenden Ansatz, brachten aber häufig keine belastbaren Beweise hervor, wie sie für ein rechtsstaatliches Verfahren notwendig sind.

In der Bundesrepublik hingegen brachten die Ermittlungsbehörden oft so viel belastendes Material zusammen, dass Historiker die Schuld der Angeklagten als gesichert feststellten. Die Prozesse selbst endeten aber über lange Zeit hinweg häufig mit einem juristischen Freispruch.

Wie die juristische Aufarbeitung des NS- und Kriegsverbrechen in den beiden deutschen Staaten aussah, erfahrt ihr in Teil II.

Text: Jasmin Söhner
Redaktion: Peggy Lohse und Leonid A. Klimov
Veröffentlicht am 06. März 2025

„Der Krieg und seine Opfer“ ist ein Projekt von dekoder, in Kooperation mit der Universität Heidelberg.

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